Der Blick über den Brezelrand
Nicht mal sieben Sekunden dauert es, bis das kleine Teigstück gleichmäßig gerollt ist und dann, geschickt mit zwei Handgriffen zu einer Brezel geformt, auf dem großen Backblech landet. Zack, zack – und gleich das nächste, Schlag auf Schlag vermehrt sich das geschwungene Laugengebäck im Sekundentakt. Wer jetzt an Akkordarbeit am Fließband denkt, liegt ganz falsch. Genau das Gegenteil wird in der gläsernen Bäckerei von Thomas und Martina Schmidt gelebt.
Passanten bleiben an dem großen Schaufenster in der Karlsruher Ritterstraße stehen. Ihr Blick geht nicht nur über Käsekuchen oder Brötchen in der Auslage, sondern die Schaufensterscheibe trennt sie von der Backstube, in der den ganzen Tag über fleißig geknetet, gerührt und geformt wird. Alles relativ entspannt. Ein erstes Indiz dafür, dass es sich hier um keine ganz gewöhnliche Bäckerei handelt. "Als wir vor zwei Jahren eröffneten, haben wir uns gefragt, warum die Backstube seit jeher in die hinterste Ecke einer Bäckerei verdammt wird", so der ambitionierte Inhaber Thomas Schmidt. Also, raus mit den Bäckern an die vorderste Front – und zwar nicht aus romantisch-ästhetischen Gründen, sondern, weil alle sehen sollen, wie die Produkte entstehen: in echter Handarbeit.
Erfolgsrezept: Gläserne Backstube und karitatives Engagement
Die Türen des fünfstöckigen Backofens gehen ständig auf und zu, entweder kommt eine Ladung Apfel- oder Käsekuchen in den heißen Ofen hinein oder der Bäckermeister befördert mit seinem großen Holzschieber einige Bleche Brötchen, Brot oder Brezeln nach draußen und setzt sie gleich in die Körbe hinter der Theke. In spätestens zwei Stunden braucht er wieder Nachschub, die Brezeln sind schnell weg. Das Erfolgsrezept für seine Laugen-"Bestseller" verrät Thomas Schmidt gerne, Backgeheimnisse gibt es bei ihm nicht: "Die Brezeln müssen über Nacht bei 4 Grad in den Kühlraum, damit sie eine Haut bekommen. Erst am anderen Morgen werden sie mit der Lauge übergossen. Öl im Teig gibt den mürben Biss", weiß der erfahrene Bäckermeister, der schon in einigen Karlsruher Stadtteilen Bäckereifilialen geführt hat.
Dass die Brezeln nur so über die Ladentheke fliegen, freut Bäcker Schmidt besonders. Denn 10 Cent pro verkaufter Brezel gehen an Organisationen, die sich für Kinder in Not einsetzen. So konnte beispielsweise schon der Kinderhospizdienst unterstützt werden. Die "Mehrwertbrezel" ist nicht das einzige soziale Engagement, dem sich das Ehepaar verschrieben hat. Sechs ihrer Mitarbeiter mit Festvertrag haben ein physisches oder psychisches Handicap. "Eine der Mitarbeiterinnen im Praktikum ist gehörlos. Aber das klappt sehr gut. Ein anderer Mitarbeiter ist 22 Jahre alt, aber durch seine Behinderung auf dem psychischen Stand eines Achtjährigen. Den müssen wir ganz anders einbinden als die anderen", erklärt Schmidt. Unterstützt werden die Maßnahmen vom Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS) und der Agentur für Arbeit Karlsruhe/Rastatt, welche eine spezialisierte Abteilung für Menschen mit Behinderung innehat. Der Integrationsfachdienst Karlsruhe (IFD) betreut die Behinderten und steht immer als Ansprechpartner zur Seite. Schmidt räumt allerdings ein: "Grundsätzlich muss man sich natürlich auch auf ein anderes Arbeiten einstellen wollen. Wer nur Behinderte einstellt, weil es dafür Fördergelder gibt, der sollte es lieber gleich lassen."
Nachhaltigkeit im Fokus
Gläserne Handarbeit, soziales Engagement und einen hohen Qualitätsanspruch sind bei Bäcker Schmidt nicht nur Schlagworte. 80 Prozent des verwendeten Getreides ist Dinkelmehl und stammt von der Marktgemeinschaft KraichgauKorn in Nussloch. Ungespritzt und wie zu Omas Zeiten – in Säcken geliefert. Nur für den Blätterteig und die Brezeln wird ungespritztes Weizenmehl verwendet. Wer bei ihm ein "G'netztes" kauft, bekommt ein Dinkelbrot über die Theke gereicht, in dem ein so genanntes Brühstück verarbeitet ist. Durch das alte, aus dem Schwabenland überlieferte Verfahren kann auf Quellstoffe verzichtet werden. Plastik kommt bei Schmidts so gut wie gar nicht in die Tüte. Nachhaltigkeit ist ein gelebter Wert. Die Becher für den brasilianischen "Café da Lagoa" zum Mitnehmen sind aus Bambus, auch sind nirgends Plastikhandschuhe im Einsatz, das Brot kommt in die Papiertüte.
Das Karlsruher Schloss in Sichtweite, was lag da näher als bei der Namensgebung der Brotlaibe auch an den Stadtgründer, Markgraf von Baden-Durlach, zu erinnern. Das "Karl-Wilhelm-Brot" ist ein kleines, feines Roggenmischbrot mit Sauerteig ohne Hefezusatz und mit viel Kruste. Thomas Schmidt hat ein besonderes Gespür für den Teig. "Wenn Salz fehlt, merke ich das schon beim Kneten." Man glaubt es ihm gern, er backt Brot, seit er zehn Jahre alt war.
Hauptsache handgemacht
"Natürlich ist das, was wir machen und wie wir es machen, kosten- und zeitintensiv. Aber die Kunden schmecken den Unterschied. Außerdem sparen wir durch unsere Herangehensweise Zusatzmittel ein, die in der Industrie häufig hinzugefügt werden." Aber hat der Beruf des Bäckers Zukunft? "Absolut", ist der Bäckermeister überzeugt. "Jedoch nur, wenn es sich um echtes Handwerk handelt, und nicht, wenn ich den Teig in Polen bestelle und vor dem Verkauf nur noch mit Ei bestreiche. Verbraucher schätzen heute wieder traditionell hergestellte Backwaren mit Blick auf Qualität, Regionalität und Gesundheit und nicht nur auf den Preis."
Auf die Frage, was er als Bäcker anders macht, antwortet Schmidt: "Ich mache eigentlich alles genauso wie die Bäcker vor 100 Jahren, nur offen und transparent. Aber der soziale Aspekt spielt bei uns als praktizierende Christen eine große Rolle. Wir beschäftigen keine behinderten Menschen, sondern Menschen mit einer Behinderung. Dies ist der kleine, aber feine Unterschied des Miteinanders bei der Arbeit und im Privaten. Und das machen wir nicht, weil es gerade 'in' ist, sondern weil es uns ein Herzensanliegen ist. Es ist der Blick über den Tellerrand hinaus, wenn Sie so wollen", sagt Schmidt. "Wer nur immer das Gleiche macht, wird wenig Erfolg haben. Die Mischung macht's. Das gilt nicht nur für unsere Rezepturen, sondern für das Handwerk allgemein. Wenn Tradition gepaart ist mit Innovation, dann ist das für die Zukunft tragfähig."
Diese Story von Ariane Lindemann erschien zuerst im Magazin REPORT 2018/2019 der Handwerkskammer Karlsruhe.