Das Handwerk wird gebraucht
Fachkräftesicherung durch Stärkung der beruflichen Bildung und mittelstandsgerechte Zuwanderung sowie engagierte Reformen der Sozialsysteme: Diese Aufgaben stehen laut ZDH-Präsident Jörg Dittrich ganz oben auf der Agenda für das Handwerk. Wo Politik handeln muss, damit handwerkliche Produkte und Dienstleistungen für Kundinnen und Kunden auch bei steigenden Kosten der Betriebe bezahlbar bleiben, erläutert der neue Handwerkspräsident im Gespräch mit Thomas Block und Roman Eichinger von der "BILD am Sonntag".
Herr Dittrich, fast drei Monate muss man in Deutschland derzeit auf einen Handwerker warten. Wann wird das besser?
Zeitnah sicher nicht. Ich denke, wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass Handwerker immer sofort verfügbar sind. Gewisse Wartezeiten sind normal. Wir müssen aber aufpassen, dass sie nicht durch die Decke gehen und am Ende gar kein Handwerker mehr kommt, weil es von ihnen einfach nicht mehr genügend gibt.
Womit rechnen Sie?
Ich kann nicht ausschließen, dass wir in einem Jahr nicht mehr drei, sondern sechs Monate auf einen Handwerker warten müssen. Wir haben einfach zu wenige handwerkliche Fachkräfte. Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Es ist schon lange nicht mehr fünf vor, sondern zwei nach zwölf. Wir haben in Deutschland zu wenige Leute, die eine handwerkliche Ausbildung machen. Wir laufen sehenden Auges in eine extreme Mangelsituation. Wenn wir hier nicht endlich umdenken und gegensteuern, dann werden Betriebe nur deshalb schließen müssen, weil es nicht genügend Fachkräfte gibt.
Was kann die Politik tun, damit mehr junge Menschen lieber eine Ausbildung als ein Studium zu machen?
Ich bin der festen Überzeugung: Die duale Berufsausbildung ist mindestens so gut wie die universitäre. Aber berufliche Bildung wird in Deutschland systematisch schlechtergestellt und nicht gleichwertig unterstützt. Bachelor-Absolventen etwa behandelt man anders als Meister, obwohl die Qualifikation gleichwertig ist und im Deutschen Qualifikationsrahmen auf demselben Niveau liegt. Es gibt vergünstigte ÖPNV-Tickets und Studentenwohnheime in Universitätsstädten, aber keinen Zuschuss zum Führerschein für angehende Handwerker auf dem Land im Sinne einer Mobilitätshilfe oder aber Wohnheime für Azubis. Der Großteil unserer Betriebe ist im ländlichen Raum ansässig. Das ist schlicht unfair. Die Politik muss endlich für eine echte gleichwertige Behandlung von akademischer und dualer Ausbildung sorgen.
Wie viele Fachkräfte fehlen denn aktuell?
Offiziell gemeldet sind 153.000 offene Stellen. Tatsächlich fehlen im Handwerk mehr als 250.000 Fachkräfte. Und die Zahl steigt täglich, denn auch bei uns kommen die Baby-Boomer jetzt ins Rentenalter.
Wie dramatisch wird es?
Allein in den nächsten fünf Jahren stehen 125.000 Betriebsnachfolgen an. Ein durchschnittlicher Handwerksbetrieb hat fünf bis sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es geht also um die Zukunft von rund 750.000 Arbeitsplätzen.
Wie viel Zuwanderung bräuchte es, um den Mangel zu beheben?
Ich kann keine konkrete Zahl nennen, aber klar ist: Wir brauchen Zuwanderung, auch wenn wir zunächst erst einmal alles dransetzen müssen, alle inländischen Kräfte zu mobilisieren und den Schwerpunkt auf die Ausbildung bei uns im Land zu legen. Es geht bei der Zuwanderung nicht darum, in Vietnam den perfekt ausgebildeten Elektroniker für Gebäudesystemintegration zu finden, sondern um junge Leute, die bereit sind, in Deutschland ein Handwerk zu lernen und hier zu arbeiten. Von der Politik erwarte ich mehr Unterstützung: Visa müssen schneller vergeben werden, und wer hier gebraucht wird, sollte dauerhaft ein Aufenthaltsrecht bekommen, ohne hohe bürokratische Hürden wie derzeit.
Müssen die Handwerker später in Rente gehen, damit es zu keinen Engpässen kommt?
Ein Dachdecker kann nicht 50 Jahre lang bis 67 auf dem Dach arbeiten. Aber deswegen auch alle Sachbearbeiter mit 60 oder 63 in den Ruhestand zu schicken, halte ich für falsch. Unser Rentensystem braucht keine einheitlichen Grenzen mehr, sondern mehr Flexibilität.
Wie kommt das Handwerk aktuell durch den Krisenwinter mit seinen hohen Energiepreisen?
Aufträge werden storniert, die Menschen halten ihr Geld zusammen, viele Lieferketten sind weiter gestört. Wenn an der Bäckertheke nur noch die Brötchen gekauft werden und nicht mehr der Kuchen, wissen wir: Die nächsten Monate werden hart. Gerade auf dem Bau merken wir deutliche Einbrüche der Auftragslage. Das macht mir Sorgen, weil Bau und Ausbau bislang Konjunkturanker waren. Hier müssen wir verhindern, dass krisenbedingt Kapazitäten wegbrechen, die wir auf längere Sicht unbedingt brauchen – für den Wohnungsbau oder die energetische Gebäudesanierung.
Eine Handwerkerstunde kostet derzeit zwischen 45 und 65 Euro. Wie viel teurer wird das 2023?
Das Handwerk hat ganz sicher kein Interesse an weiter steigenden Preisen. Wir müssen aufpassen, dass Handwerksleistungen für weite Teile der Bevölkerung nicht unbezahlbar werden. Dieser Grenze nähern wir uns gerade. Handwerker sind für alle da, nicht nur für den Teil der Gesellschaft, der weiter genug Geld hat. Da droht eine Spaltung der Gesellschaft: Menschen, die sich beispielsweise einen Friseurbesuch leisten können, und andere, die das nicht mehr können. Wir müssen gesellschaftlich den Faktor menschliche Arbeit entlasten.
Wird es trotzdem teurer?
Höhere Preise werden sich nicht überall vermeiden lassen. Denn für uns steigen ja nicht nur die Material- und Energiekosten. Wir haben steigende Krankenkassen-, Pflegeversicherungs-, Berufsgenossenschaftsbeiträge. Die schlagen auf die Preise durch. Und am Ende kommen vom Staat noch 19 Prozent Mehrwertsteuer oben drauf. Ergebnis: Die Lücke zwischen dem, was der Handwerker tatsächlich verdient, und dem, was die Stunde die Kundin oder den Kunden kostet, wird immer größer. Hier muss die Politik gegensteuern.
Was erwarten Sie?
Wir reißen gerade das Ziel, die Sozialversicherungsbeiträge bei 40 Prozent vom Lohn zu deckeln. Aber wir können unser Sozialsystem nicht auf Dauer fast ausschließlich über die Lohnzusatzkosten finanzieren. Ist es richtig, wenn ein Bauleiter bei mir in der Firma den Spitzensteuersatz von 42 Prozent bezahlt, ein Großaktionär auf seine Dividenden aber nur 25 Prozent Kapitalertragsteuer?
Ihr Lieblings-Dachdecker-Witz?
Zwei Dachdecker fallen vom Dach. Sie fliegen und fliegen, und als sie auf Höhe der ersten Etage sind, sagt der eine zum anderen: Bis jetzt ist doch alles gut gegangen.