Der Mittelstand bestimmt den Wirtschaftserfolg Deutschlands
Dieses Interview ist zuerst in der "Süddeutschen Zeitung" erschienen.
Herr Dittrich, wer dieser Tage einen Installateur, einen Fliesenleger oder Automechaniker braucht, der muss oft monatelang auf einen Termin warten oder wird gar nicht erst zurückgerufen. Was läuft da schief in ihrem Berufsstand?
Dass man auf eine wertige, fachkundige Leistung – wie in anderen Bereichen der Wirtschaft auch - eine vertretbare Zeit warten muss, halte ich zunächst für kein Drama – zumal der Handwerker in Notfällen in der Regel sofort kommt. Ich sage intern aber auch: Wenn die Kunden länger warten müssen und zudem noch der Preis steigt, dann sind wir als Handwerker angehalten, auch den Service zu verbessern. Was natürlich in Zukunft nicht eintreten darf: Dass die Wartezeiten so lang werden, dass darunter die Wirtschaftsentwicklung des Landes leidet. Dafür brauchen wir aber ausreichend Fachkräfte.
Woran liegt es, dass so viele junge Menschen nicht mehr Handwerker werden wollen? Sind sie körperliche Arbeit nicht mehr gewohnt oder wollen sich die Hände nicht schmutzig machen?
Da schwingen Klischees über das Handwerk in der Frage mit, die leider durchaus noch verbreitet sind, die aber die Realität nicht mehr widerspiegeln. Den einen Grund dafür, dass sich immer weniger junge Menschen für eine berufliche Ausbildung entscheiden, gibt es nicht. Doch zentral ist: Wir sind in der Bildungspolitik in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten falsch abgebogen. Weil vermittelt wurde und immer noch wird, dass nur eine akademische Ausbildung zu Wohlstand führt. Da ist ein richtiger Saugroboter in Richtung Universität entstanden. Und auch die öffentlichen Gelder werden entsprechend einseitig verteilt. Eine berufliche Ausbildung ist aber genauso viel wert wie ein Studium, das zeigen alle Statistiken: Im Schnitt steht ein Handwerksmeister am Ende finanziell nicht schlechter da als ein Akademiker mit Bachelor-Abschluss.
Statt über Handarbeit und Überstunden redet die jüngere Generation aber lieber über Work-Life-Balance, Sabbaticals und die Vier-Tage-Woche. Steuert hier ein ganzes Land in die falsche Richtung?
Zunächst gibt es schlicht weniger Jugendliche als früher. Ihre Verhandlungsmacht ist daher größer und diese nutzen sie auch. Zugleich stellen wir in unseren Betrieben fest, dass junge Menschen schwerer für etwas zu begeistern sind als früher, weil sie es dank Handy und sozialen Medien gewohnt sind, permanent unterhalten und umworben zu werden. Diese Mauer müssen wir erst mal überwinden, bis verstanden wird, was im Handwerk neben einer qualifizierten Ausbildung noch geboten wird: sozialer Halt etwa oder der Anschluss an eine "Familie". Manch erfahrener Kollege sorgt erst einmal dafür, dass ein Auszubildener regelmäßig isst oder pünktlich auf der Baustelle erscheint. Oder er lebt vor, dass man bitte und danke sagt. In manchen Fällen kann man zugespitzt sagen: Ein Handwerksmeister ersetzt zwei Sozialarbeiter.
Die Energie- und Heizungswende kurbelt die Nachfrage nach Handwerkern noch zusätzlich an. Gleichzeitig sind 250.000 Stellen nicht besetzt, in den kommenden Jahren muss für 125.000 Betriebe altersbedingt ein neuer Inhaber gefunden werden. Braut sich da ein Desaster zusammen?
Der Präsident des Bundesinstituts für Berufliche Bildung hat von einer Fachkräftekatastrophe gesprochen. Diesen Begriff würde ich vermeiden wollen, weil er eine Art Ausweglosigkeit signalisiert. Aber es ist schon richtig, alle Alarmglocken zu läuten. Berufliche Bildung muss ideell und finanziell wieder deutlich mehr wertgeschätzt werden. Dann wird sie auch für junge Leute wieder attraktiver. Zugleich sind aber auch die Betriebe gefordert, jungen Menschen Perspektiven aufzuzeigen. Das Handwerk bietet gute Bezahlung und Entwicklungsmöglichkeiten, vor allem aber auch Sicherheit: Mancher Beruf etwa in der Industrie oder bei Banken wird durch Roboter oder KI womöglich verschwinden. Aber KI kann kein kaputtes Rohr reparieren – vermutlich auch in 20 Jahren nicht.
Hohe Nachfrage, immer knapperes Angebot, steigende Preise: Viele Kunden können oder wollen sich einen Handwerker gar nicht mehr leisten.
Den Vorwurf, Handwerker verlangten zu hohe Preise, weise ich zurück. Es kann nicht sein, dass sich große Konzerne ihrer hohen Umsatzrenditen rühmen, während wir uns für ein paar Euro mehr rechtfertigen sollen, obwohl wir als Handwerker jeden Tag persönlich ins Risiko gehen. Einen Großteil der zusätzlichen Einnahmen geben die Betriebe zudem an die Mitarbeiter weiter, deren Löhne zuletzt spürbar gestiegen sind. Und: Für jeden Euro Stundenlohn, den wir als Arbeitgeber im Handwerk mehr überweisen, kommen etwa im Dachdeckerhandwerk weitere 1,20 Euro, 1,30 Euro an Lohnzusatzkosten hinzu. Wir zahlen ja nicht nur das Gehalt und unseren Teil der Sozialbeiträge, sondern auch die Berufsgenossenschaft, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, das Urlaubsgeld und vieles mehr. Und da habe ich über ständig steigende Energie- und Bürokratiekosten noch gar nicht gesprochen.
Die Leute müssen also damit leben, dass Handwerker unbezahlbar sind?
Ich mache mir schon Sorgen, dass manche Leistungen so teuer werden, dass sie nicht mehr nachgefragt werden oder in der Schwarzarbeit verschwinden. Das ist aber kein Problem des Handwerks, sondern der Gesamtgesellschaft, weil der größte Teil des Kostenschubs nicht von uns beeinflussbar ist, sondern wir letztlich die uns auferlegten Kosten weitergeben. Wenn wir beispielsweise die Zementherstellung über den CO2 Preis immer weiter verteuern, dann mag das aus Klimaschutzgründen richtig sein. Es hat aber Folgen, beispielsweise für die Preise des Bauhandwerks.
Der Investitionsbedarf in Deutschland ist nicht nur wegen der Energiewende, sondern auch mit Blick auf die mangelhafte Digitalisierung, auf kaputte Schulen und Straßen so groß wie nie in den vergangenen 50 Jahren. Warum ist von einem Investitionsboom nichts zu sehen?
Die Politik ist nicht verlässlich – das ist meines Erachtens zurzeit das größte Problem. Wenn ein Bäckermeister einen teuren neuen Ofen kaufen will, dann muss er wissen, mit welcher bezahlbaren Energieform er in den nächsten Jahren rechnen kann. Hört er dann Politiker, die ihm heute zu Strom, morgen zu Wasserstoff und übermorgen doch wieder zu Gas raten, wird er erst einmal gar nichts investieren. Zusätzlich stellt sich noch die Grundsatzfrage: Lohnt sich das Geschäft angesichts ständig steigender Steuern, Abgaben und Bürokratiekosten überhaupt noch? Ich will mir gar nicht anmaßen, Ratschläge zu geben, ob die Politik etwa die Schuldenbremse lockern sollte, um mit höheren Ausgaben private Investitionen anzuschieben. Aber ein schlüssiges, durchdachtes Langfristkonzept der Bundesregierung können wir sehr wohl erwarten.
Vor allem Politiker von SPD, Grünen und Linken fordern angesichts der gewaltigen Herausforderungen einen starken, wirtschaftlich aktiveren Staat. Als jemand, der in der DDR aufgewachsen ist: Was halten Sie von solcherlei Staatsgläubigkeit?
Ein Vergleich zwischen der Bundesrepublik und einem Willkürstaat wie der DDR verbietet sich. Aber: Dass der Versuch der DDR-Führung, die Dinge von oben vorzugeben, schiefgegangen ist, das sollte uns in Erinnerung sein. Ich nenne ein Beispiel: Wenn die Mieten zu hoch sind, dann können wir entweder mehr staatlich bezuschusste Sozialwohnungen bauen. Oder aber wir schaffen durch Änderungen im Steuerrecht, durch Eigentumsförderung und den Verzicht auf Bürokratie die Voraussetzungen, dass wieder mehr private Bauherrn Wohnraum schaffen. Dann sinken die Mieten von ganz alleine.
Welche bürokratischen Regelungen machen den Betrieben am meisten Ärger?
Was mich zunächst grundsätzlich stört, ist, dass viele bürokratische Regeln auf Misstrauen gegenüber den Unternehmen und Bürgern beruhen. Oder aber schlicht das Gewissen beruhigen sollen - Beispiel Lieferkettengesetz: Niemand will, dass Kinder ausgebeutet werden. Wie aber soll ein kleiner Handwerksbetrieb kontrollieren, ob irgendein Vorprodukt etwa in Bangladesch mit Kinderarbeit hergestellt wurde. Das kann vielleicht ein Weltkonzern, aber kein Kleinunternehmen. Oder ich muss als Handwerksmeister eine Gefährdungsanalyse für Schwangere vorhalten, obwohl auf dem Arbeitsplatz gar keine Frau arbeitet, geschweige denn eine schwangere. Warum setzen wir nicht einfach einmal gezielt einige Dokumentationspflichten für zwölf Monate aus und schauen, ob man es überhaupt negativ bemerkt?
Sie sagen: Das kann vielleicht ein Weltkonzern, aber kein Kleinunternehmen. Orientiert sich die Politik zu sehr an den Großen und zu wenig an den Kleinen?
Eindeutig ja. Wissen Sie, wie viele Firmen in Deutschland und Europa als kleine und mittlere Unternehmen gelten? 90 Prozent in Deutschland und unglaubliche 99,8 Prozent in der EU. Gesetze werden aber oft für die übrigen zehn beziehungsweise 0,2 Prozent gemacht. Entsprechend schlecht ist die Stimmung in vielen Betrieben.
Bei seinen letzten Treffen mit den Spitzenverbänden der Wirtschaft tat Olaf Scholz Beschwerden der Wirtschaft gleich mehrfach als das übliche Genörgel der Verbände ab und spottete, die Klage sei „das Lied des Kaufmanns“. Was empfinden Sie, wenn Sie das hören?
Der Kanzler hat tatsächlich eine sehr eigene Sicht auf die Dinge. Er sagt: Es gibt 46 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Deutschland – so viele wie noch nie. Alles in Butter also. Wir sagen im Einklang mit vielen Ökonomen: Ist das noch das richtige Erfolgskriterium? Oder müssten wir nicht vielmehr schauen, ob wir auch für die Zukunft gut aufgestellt sind? Ob wir genug investieren? Wie wir unser schwaches Wachstumspotenzial wieder steigern und was wir brauchen, um im Wettbewerb mit anderen Ländern weiter bestehen zu können? Dass hier was passieren muss, das sehen auch FDP und Grüne so, der Kanzler scheint es aktuell anders einzuschätzen.
Trägt Scholz‘ Ignoranz dazu bei, dass die AfD weiter Zulauf hat?
Dass Populisten überall in Europa Zulauf haben, ist selbstverständlich nicht die Schuld der deutschen Bundesregierung. Das uneinige Bild, das die Regierung abgibt, ist aber bestimmt nicht unbedingt zuträglich, um das Auseinanderdriften der Gesellschaft zu stoppen.
Auch unter Handwerkern gewinnt die AfD an Zustimmung, der Vorsitzende Chrupalla, selbst Malermeister, nennt sie bereits selbstbewusst "die Partei des deutschen Handwerks". Die Südwestpresse in Ulm fragte unlängst: "Droht dem Handwerk eine Unterwanderung von rechts?"
Das Handwerk ist mit 5,6 Millionen Beschäftigten und deren Familienangehörigen eine relevante Gesellschaftsgruppe und als solche auch Spiegelbild der Gesellschaft. Wenn eine Partei insgesamt an Zustimmung gewinnt, dann zeigt sich das auch bei uns. Aber dass das dann in der Handwerkerschaft populärer wäre als in der Gesamtbevölkerung, dazu gibt es keinerlei Hinweise.
An diesem Wochenende ist Europawahl, viele Experten erwarten einen Rechtsruck. Was empfehlen Sie den deutschen Handwerkern?
Wählen gehen! Wer die Freiheit erhalten will und unternehmerische Freiheit verbessern möchte, der muss im Gegenzug bereit sein, Verantwortung zu tragen. Zu dieser Verantwortung gehört es zuallererst, von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Und wir sollten kompromissfähig bleiben. Gerade in der Wirtschaft und im Handwerk wird Europa oft nur noch als Normierungs- und Regulierungsmaschine wahrgenommen – nicht ohne Grund. Europa ist aber in allererster Linie ein Friedensprojekt und zudem eine unabdingbare Gemeinschaft im wirtschaftlichen Wettbewerb mit den USA und Asien. Das Handwerk braucht ein wettbewerbsfähiges Europa, weil das unmittelbar auch die Wettbewerbsfähigkeit am Standort Deutschland und damit für die Betriebe hier vor Ort prägt. Dazu bedarf es Institutionen und Menschen, die sich engagieren, und die ihre politischen Entscheidungen unter Achtung rechtsstaatlicher, demokratischer Prinzipien treffen. Jede und jeder kann mit seiner Stimme genau solche Menschen ins Europäische Parlament wählen.