Der Standort Deutschland ist nicht mehr wettbewerbsfähig
Jörg Dittrich, wie ist derzeit die Stimmung im deutschen Handwerk?
Bei einer Million Handwerksbetrieben gibt es eine Million verschiedene Stimmungen. Besorgt ist die Stimmung definitiv. Ich höre viel von Ängsten: Wie geht es weiter? Gleichzeitig gibt es viele Firmen oder Handwerksmeisterinnen und -meister, die die Zuversicht nicht fallen lassen wollen. Demzufolge würde ich es mit einer besorgten Zuversicht umschreiben.
Womit hängt die Sorge vor allen Dingen zusammen?
Der Standort Deutschland ist nicht mehr wettbewerbsfähig. Die Energiekosten sind so hoch. Die bürokratischen Lasten sind so hoch. Steuern und Abgaben, die Lohnzusatzkosten – wir müssen ins Handeln kommen und brauchen Parteien, die sich auf ein Konzept einigen können.
Sie haben selbst einen eigenen Handwerksbetrieb – welchen Anteil machen die Lohnzusatzkosten für Sie aus? Und wo könnte das noch hinführen?
In der Öffentlichkeit spricht man immer von diesen 40 Prozent – 20 Prozent Arbeitgeber, 20 Prozent Arbeitnehmer – an Sozialkosten. Das stimmt aber nicht, weil zu diesen 20 Prozent Arbeitgeberanteil ganz viele Dinge hinzukommen. Soziale Errungenschaften, die ich nicht in Frage stelle: Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsbezahlung, zusätzliches Urlaubsgeld, Feiertagsbezahlung, Berufsgenossenschaft. Da kommen in einem Handwerksbetrieb schnell 100 Prozent Sozialkosten hinzu. Dann ist die Gefahr, dass der Kunde die Leistungen der Handwerksbetriebe nicht mehr bezahlen kann. Es geht nicht darum, ob ich das will, ob das gut ist oder ob das gerecht ist. Es geht darum, dass der Kunde es sich leisten können muss. Eine Branche wie das Handwerk, die besonders lohnintensiv ist, ist stärker betroffen als die Industrie.
Wie viel "Sozialstaat" können wir uns bei den gegenwärtigen Rahmenbedingungen leisten?
Es ist ein Standortvorteil, hohe soziale Standards zu haben, in denen Menschen sich wohlfühlen, die dann auch die Demokratie tragen. Fakt ist: Wir müssen uns ändern. Und es wäre klug, die Dinge auf den Tisch zu legen und zu fragen: Was passiert eigentlich, wenn wir mehr Steuermittel nehmen? Wo nehmen wir die her? Was passiert, wenn wir mehr Eigenverantwortung einfordern in der Gesellschaft? All diese Punkte müssen zu einem Gesamtkonzept gefügt werden. Es wird keine Einzelfallgerechtigkeit geben. Und es wird auch weh tun. Aber wir müssen uns anpassen, damit wir unsere sozialen Errungenschaften erhalten und uns nicht versündigen an der nächsten Generation, die das dann nicht mehr hätte, weil wir die Kassen leerräumen.
Zum deutschen Handwerk gehören auch die Gesundheitshandwerke. Welchen Beitrag leisten sie zum deutschen Gesundheitswesen?
Der Zahnarzt macht Ihnen schöne neue Zähne. Vielen ist aber nicht bewusst, dass der Zahntechniker, der Handwerksmeister, diese Sachen ja erst herstellen muss. Der Orthopädie-Techniker, der Orthopädie-Schuhmachermeister, der Hörakustiker, der Augenoptiker – sie alle gehören zum Handwerk dazu. Die Hörakustiker haben mal begonnen mit einem Hörrohr aus Metall. Inzwischen haben sie die kleinsten Computer, die es gibt, die individuell auf den Menschen angepasst werden. Man sieht, welche Lebensqualität und welche Prävention in diesen Gewerken liegen. Das muss in der Öffentlichkeit mehr wahrgenommen werden. Es ist nicht nur mit dem guten Mediziner getan. Ohne die Gesundheitshandwerke würde unser Gesundheitswesen nicht funktionieren. Wir brauchen ein Konzept, das die Nachteile des Standorts Deutschland in den Fokus nimmt – und ausräumt.
Wir stehen vor den vorgezogenen Neuwahlen nach dem Aus der Ampel-Regierung. Welche Erwartungen formulieren Sie an die neue Bundesregierung?
Wirtschaftspolitik muss Chefsache sein. Und es muss ein einigungsfähiges Konzept auf den Tisch, das die Nachteile, die der Standort Deutschland momentan hat, in den Fokus nimmt und sie ausräumt. Wir sind ein starkes Land. Wir können das. Aber wir müssen jetzt auch handeln.