Zentralverband des
Deutschen Handwerks
Zentralverband des
Deutschen Handwerks
24.06.2024

Die Bürokratie ist eine schwere Kugel am Bein der Betriebe

ZDH-Präsident Jörg Dittrich beschreibt im Interview mit Alfons Frese vom Tagesspiegel, wie die überbordende Bürokratie Handwerksbetriebe belastet und junge Meisterinnen und Meister vom Schritt in die Selbstständigkeit abschreckt.
Portrait Dittrich

Herr Dittrich, wie geht es Ihrer Firma?

Immer noch gut. Aber die Anfragen und Aufträge werden weniger und der Preiskampf spürbar härter. Ich nehme hier allerdings Unterschiede zwischen Stadt und Land wahr: je ländlicher, desto schwieriger für die Betriebe. Auf dem Land hängt viel ab von privaten Kunden und die halten sich zurzeit - gerade was das Bauen betrifft - sehr zurück. In einer Stadt wie Dresden kann man als Betrieb leichter auf andere Kunden und Betätigungsfelder ausweichen. Und trotz der krisenhaften Lage am Bau ist man dann als Dachdecker - etwa wegen des Ausbaus von Solaranlagen - gut beschäftigt.

Sie haben kürzlich berichtet, dass aufgrund der schwierigen Bedingungen in Deutschland Handwerksbetriebe ins grenznahe Ausland verlagern. Ist das Handwerk plötzlich mobil geworden?

In der Mehrheit natürlich nicht. Aber ich kenne einen Bäckerbetrieb, der seine Produktion nach Westpolen verlegt hat. Die Energiekosten sind geringer und die Regulierung weniger restriktiv als in Deutschland, und von Westpolen aus ist er mit seinen Produkten schnell in Berlin. Unsere Bäcker dürfen am Sonntag nur drei Stunden backen, solche Einschränkungen gibt es nicht in Polen.

Warum ist die Stimmung im Handwerk "mies", wie Sie seit Wochen beklagen?

Es ist kein Klagen, sondern es ist zu spüren, dass vielen die Zuversicht fehlt: Es gibt zu viele ungeklärte Themen und dazu Ärgernisse. Ein Beispiel aus dem Metallbau. Ein Betriebsinhaber hat mir berichtet, gerade vier große Geschäftskunden verloren zu haben. Grund: Wegen des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes war eine Auftragsbedingung, genau anzugeben, woher die von ihm verwendeten Kupferkabel stammen. Er hatte aber schlicht nicht die Infos, um nachzuweisen, ob überall in seiner Lieferkette die geforderten Bedingungen gegeben sind. Auch wenn es Schwellenwerte gibt, wonach kleine und mittlere Betriebe ausgenommen sind: Die großen Konzerne reichen das Thema nach unten weiter. Doch die kleinen Betriebe können das nicht leisten. Kurzum: Die guten Absichten des Gesetzes gehen an der Realität vorbei und belasten kleine Betriebe, machen ihnen das Leben schwer.

Ist das eine Ausnahme oder die Regel?

Die Bürokratie, die wir uns im Laufe der Jahrzehnte geschaffen haben, ist eine schwere Kugel am Fuß des Mittelstands geworden und bremst viele Betriebe massiv aus. Wir müssen wieder zu Tempo kommen, müssen Entscheidungen treffen. Was ist eigentlich aus dem Planungsbeschleunigungspaket geworden, das der Kanzler versprochen hat? In den akuten Krisen der vergangenen Jahre hat unsere Demokratie gut funktioniert, war Politik schnell und effizient. Jetzt aber, wo es darum geht, ganz grundsätzliche Standortmissstände aus dem Weg zu räumen, endlich wettbewerbsfähiger zu werden, da dauert alles ewig.   

Weil Veränderungen häufig Belastungen mit sich bringen, zaudert die Politik?

Die Bereitschaft zu Veränderungen ist unterschiedlich: Wir setzen aktuell etwa alles daran, die Art unserer Energieerzeugung und unseres Energieverbrauchs zu ändern, um angesichts des Klimawandels den CO2-Ausstoß möglichst umfassend zu verringern. Diese Entschlossenheit zu Veränderungen fällt uns in anderen Bereichen schwerer. Beispiel Arbeits- und Ausbildungsmarkt: Der ist inzwischen ein ganz anderer, aber an starren Arbeitsschutzgesetzen und Dokumentationspflichten wird vielfach unverändert festgehalten. Es fehlt der Praxisabgleich. Da müssen andere Konzepte her. Abgeordnete und Minister sind wertschätzend gegenüber dem Handwerk, doch wenn es um das konkrete Handeln geht, darum, die Fakten aufzugreifen und Gesetzgebung orientiert an den kleinen und mittleren Betrieben zu verändern, da kann ich noch nicht genügend Kraft erkennen.  

Immerhin gibt es inzwischen das Büroentlastungsgesetz IV.

Das Gesetz sieht unter anderem vor, die Aufbewahrungsfrist für Dokumente von zehn auf acht Jahre zu verkürzen. Das ist nett gemeint, bringt aber doch nicht wirklich etwas: Viele Dokumente sind mittlerweile digital, und ob die zwei Jahre mehr oder weniger auf der Festplatte liegen, spielt keine Rolle. Aufwand und Kosten entstehen bei der Dokumentation, dort müsste man rangehen. Brauchen wir wirklich all diese Nachweise und Berichte? Mein Vorschlag: Warum setzen wir nicht einfach einmal eine Vorschrift probehalber zwölf Monate aus und schauen, was passiert?

Funktioniert die Politik in Sachsen anders als in Berlin?

Landespolitiker sind nach meiner Empfindung vielleicht etwas näher am Alltag und an den Sorgen der Menschen.

Trotzdem ist die AfD in Sachsen so beliebt wie nirgendwo sonst?

Viele der Nöte und Sorgen der Menschen sind sicherlich berechtigt. Doch ich befürchte, dass es sich einige zu leicht machen, wenn sie glauben, es gibt die einfachen Antworten zur Lösung ihrer Probleme. Dazu ist harte Arbeit am Kompromiss nötig. Und dafür brauchen wir Politikerinnen und Politiker, denen die Menschen zutrauen, dass sie in diesem Sinne nach Lösungen suchen, die die Gesellschaft zusammenhalten.

Warum wollen so viele Sachsen AfD wählen?

Ostdeutschland hat im Zeitraffer Entwicklungen durchgemacht, die es im Westen so nicht gegeben hat. Das beginnt damit, dass nach der Wiedervereinigung die große Mehrheit der Menschen ihren Job wechseln musste. Und setzt sich damit fort, dass Städte massiv geschrumpft sind und sich - wie etwa in Hoyerswerda - mehr als halbiert haben. Was macht das mit einer Gesellschaft, wenn Hunderttausende fortziehen? Sachsen ist eines der ältesten Bundesländer. In einem solchen Umfeld greifen sich Unsicherheit und Angst vermutlich leichter Raum. Aber die Wahlergebnisse beispielsweise für Bayern und Baden-Württemberg zeigen, dass wir es hier nicht allein mit einem ostdeutschen Thema zu tun haben. Wenn die Menschen Ängste und Nöte haben, dann sollte die Politik das überall ernstnehmen.

Junge Leute kann die Politik nicht im Osten ansiedeln.

Ich bin zuversichtlich, dass viele junge Menschen die Vorteile des Ostens erkennen: bezahlbarer Wohnraum, wunderbare Landschaften und viele offene Stellen mit guten Entwicklungsmöglichkeiten. Diese positiven Punkte muss man aber auch nach vorne schieben. Und nicht die ganze Zeit meckern, denn das erhöht nicht die Attraktivität.

Mit einer Kampagne bemüht sich das Handwerk seit anderthalb Jahrzehnten um Attraktivität. Hilft das bei der Lösung der Nachwuchsprobleme?

Es hat die Wertschätzung für das Handwerk deutlich erhöht, hier sind wir inzwischen auf dem Niveau von Polizei und Feuerwehr. Unser Ziel ist natürlich, dass das dann auch bei mehr jungen Leuten dazu führt, selbst Handwerker zu werden: Da zögern immer noch zu viele. Wir arbeiten mit aller Kraft daran, die Attraktivität und Vielfalt der Berufsbilder wie auch der Karrieremöglichkeiten im Handwerk noch stärker zu kommunizieren, indem wir beispielsweise in die Schulen gehen und auch die Lehrer besser informieren. Im Rahmen des Projekts „Handwerk macht Schule“ stellen wir unter anderem Unterrichtsmaterial zur Verfügung. Aber nötig ist darüber hinaus eine Berufsorientierung mit Infos zur beruflichen Bildung an bundesweit allen Schulen, gerade auch Gymnasien.

Wo bekommen Sie in Ihrem Betrieb Dachdecker, wenn die Sachsen immer älter werden?

Mein ältester Sohn ist Dachdeckermeister, dazu hält mein Neffe – ebenfalls Dachdeckermeister - Anteile am Betrieb, ebenso meine Frau. Wir haben 15 Azubis, darunter drei Frauen, die Dachdeckerin werden wollen. Um die Zukunft der Firma mache ich mir also keine Sorgen.

Zum Nachwuchsproblem gehört im weiteren Sinne auch die geringe Bereitschaft zur Selbstständigkeit. Warum ist das so?

Ein Hauptgrund ist die abschreckende Wirkung der Bürokratie: An der Uni Köln hat eine Studie festgestellt, dass rund ein Viertel der neuen Meisterinnen und Meister sich wegen der Bürokratie nicht selbstständig machen will. Das ist ein Jammer und auch Besorgnis erregend: Denn in den kommenden fünf Jahren stehen allein im Handwerk rund 125.000 Betriebsnachfolgen an.

War das einmal anders?

Ja. In Zeiten, in denen viele arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht waren, haben diese sich selbstständig gemacht. Dieses Motiv gibt es aktuell nicht mehr. Selbstständigkeit muss heute Sinn machen. Wenn aber die Leute das Gefühl haben, dass über selbstständigen Unternehmern Güllekübel ausgekippt werden, weil diese angeblich Leute ausbeuten, Steuern hinterziehen, wenn der Staat ihnen gegenüber grundsätzlich ein großes Misstrauen hat, wenn nicht mehr wertgeschätzt wird, dass es genau diese Unternehmer sind, die Arbeits- und Ausbildungsplätze sichern, dann lassen es viele mit der Selbstständigkeit.

…obwohl das Handwerk goldenen Boden hat. Wird das zweite Halbjahr mit der sich abzeichnenden Konjunkturerholung besser als das erste?

Die Sehnsucht nach Zuversicht und Aufschwung ist jedenfalls riesengroß. Es wäre sehr hilfreich, wenn die Ampelregierung sich auf die eine oder andere Entscheidung verständigen könnte, die Zuversicht verbreitet. Zum Beispiel eine Entlastung bei den Netzentgelten, denn diese verteuern den Strom stark und machen Wärmepumpen unrentabel. Dass man sich vielleicht nicht in allen Bereichen, wo strukturelle Reformen nötig sind, gleichzeitig daran machen kann, ist ja noch nachzuvollziehen. Aber ganz generell nur abzuwarten, das kann es nicht sein. Irgendwo müssen wir anfangen und daran gehen, Investitionsbarrieren abzubauen: entweder bei der Bürokratie oder den Sozialabgaben oder den Lohnstückkosten oder den Energiekosten. Ich bin überzeugt: Ginge die Ampel hier kraftvoll ran, könnte das die Stimmung in Richtung Zuversicht drehen.