Dittrich: Bürokratiefrust und Reformnot
Sie führen seit 1997 einen Dachdeckerbetrieb in Dresden. Wenn Sie an damals zurückdenken – was hat sich wesentlich geändert, was ist im täglichen Geschäft schwieriger geworden?
Wenn damals ein Auftrag reinkam, haben wir spätestens nach einer Woche mit der Arbeit auf der Baustelle anfangen können. Das klappt heute nicht mehr, weil vor der eigentlichen Arbeit alles Mögliche dokumentiert, nachgewiesen und freigegeben werden muss. Ob Bemessungsgrundlagen für Entwässerung und Windsogsicherung, die vorgeschriebenen Gefährdungsanalysen zum Unfallschutz oder exakte Vorschriften für die Befestigung von Haltepunkten auf dem Dach, deren Einbau einzeln namentlich nachgewiesen und fotografiert werden muss: Es sind immer mehr Auflagen geworden.
Wie viel Zeit nimmt das tatsächlich in Anspruch? Laut einer Ifo-Umfrage müssen Angestellte mittlerweile 22 Prozent ihrer Arbeitszeit für bürokratische Tätigkeiten aufwenden.
Für Handwerksbetriebe ist der Aufwand in aller Regel erheblich höher. Eine Studie für die Metallbauer attestiert, dass durchschnittlich über 30 Prozent der Arbeitszeit darauf entfallen. Ähnliches ergab eine Untersuchung des Normenkontrollrats Baden-Württemberg im Bäckerhandwerk. Ergebnis dieser Studien ist auch, dass die Betriebe jährlich bis zu fünfstelligen Beträgen investieren müssen, weil sie ohne spezielle Software oder Steuerberater nicht mehr auskommen. Das führt zu Ohnmacht – und Frust.
Verstehen Sie den Gedanken hinter solch kleinteiligen Auflagen?
Natürlich ist Arbeitsschutz wichtig, ist Gefährdungsanalyse wichtig, ist Unfallschutz wichtig: Aber wir übertreiben es inzwischen maßlos. Zwei weitere Beispiele dafür: Jede Leiter bei mir im Betrieb muss zweimal im Jahr auf ihren ordnungsgemäßen Zustand überprüft werden. Für diese Sichtprüfung gibt es exakte Vorgaben und eigene Lehrgänge. Warum traut man Beschäftigten nicht zu, eigenständig zu sehen, wenn etwas mit einer Leiter nicht in Ordnung ist? Oder die sogenannte Unfallverhütungsvorschrift: Jährlich müssen alle Autos eines Handwerksbetriebs extra geprüft werden, um diese Vorschrift einzuhalten obwohl bei der TÜV-Prüfung nahezu identisch geprüft wird. In der Praxis kann es also sein, dass Fahrzeuge, die gerade vom TÜV kommen, wenig später schon wieder für die Unfallverhütungsprüfung in die Werkstatt müssen. Für beide Prüfungen werden natürlich auch jeweils Gebühren fällig.
Worauf wollen Sie hinaus? Haben wir es verlernt mit Alltagsrisiken zu leben?
Man glaubt Fehler durch Dokumentation verhindern zu können. Dadurch entstehen immer mehr Vorschriften zur Dokumentation. Ob immer mehr Nachweise Fehler oder Unfälle verhindern können? Da habe ich inzwischen Zweifel. Aber wir häufen erst einmal überbordend bürokratisch Nachweisbelege und Dokumentationen an.
Sie warnen davor, dass zunehmend mehr Nachwuchskräfte im Handwerk aus genau diesen Gründen keine Lust mehr haben, einen eigenen Betrieb zu führen. Ist es wirklich so schlimm?
Das ist keine Vermutung, sondern mit Daten belegt: Dazu wurden junge Meisterabsolventinnen und -absolventen befragt. Diese jungen Menschen, die potenziell genau diejenigen sind, die Betriebe gründen oder übernehmen könnten, nennen neben dem finanziellen Risiko vor allem die Bürokratie und die drohenden Strafen bei Nichteinhaltung von Vorgaben als Hauptgründe, warum sie sich gegen eine Selbstständigkeit entscheiden. Viele sagen sich: Das tue ich mir nicht an, ich werde nur attackiert. Die großen Risiken, die man als selbstständiger Betriebsinhaber eingeht, die Verantwortung für Beschäftigte und Azubis, das wird nicht wertgeschätzt.
Sie sprechen ständig von "Wir". Aber wer attackiert das Handwerk denn? An wen genau richtet sich Ihre Kritik?
Ich habe den Eindruck, häufig werden bürokratische Vorgaben und Regelungen auf den Weg gebracht, ohne deren Mehrwert oder Sinnhaftigkeit zu hinterfragen. Politiker scheinen alles kontrollieren und möglichst bis ins Detail regeln zu wollen. Zumindest lassen die Politiker die Bürokratie gewähren. Egal ob Umweltbehörden, Zoll, Finanzämter und viele weitere Behörden und Institutionen, es entsteht das Gefühl, dass wir dabei sind, das betreute Leben zu organisieren. Dabei ist das Vertrauen in die Menschen und deren Verantwortungsbewusstsein immer weiter eingeschränkt worden. Deutschland konnte im wirtschaftlichen Wettbewerb mit Asien und Amerika bisher oft erfolgreich bestehen, weil die soziale Marktwirtschaft von Vertrauen geprägt war. Dieses Vertrauen ist leider zunehmend verloren gegangen.
Woran machen Sie das im Alltag des Handwerks fest?
Es werden Debatten über Lastenräder und SUVs in der Großstadt geführt, aber der Wirtschaftsverkehr spielt kaum eine Rolle. In vielen Großstädten ist das Halten auf Radwegen zum Entladen verboten, gleichzeitig wurde häufig eine Fahrspur für Autos gestrichen. Wenn Handwerker oder Lieferanten schweres Gerät oder etwa eine Badewanne ausladen müssen, ist das in manchen Straßen schlichtweg nicht mehr möglich. Kollegen aus Berlin und München haben mir berichtet, dass sie deshalb bereits Aufträge ablehnen mussten. Doch anstatt den Unmut auf die Politiker zu richten, die eine solche Verkehrsplanung durchgesetzt haben, waren die Kunden wütend auf die Handwerker, denen angeblich die Aufträge nicht wichtig genug seien.
Braucht Deutschland mehr Milei oder Musk, wie Ex-Finanzminister Christian Lindner es vorschlägt?
Ich verfolge diese Debatte, möchte den Fokus aber auf den Inhalt statt auf die Benennung oder die Namen legen. Denn die damit umschriebene ganz grundsätzliche Reformbereitschaft und Innovationsaufgeschlossenheit täte sicherlich auch Deutschland gut - nicht nur beim Thema Bürokratieabbau, aber da besonders. Der Ansatz eines dann auch spürbaren Bürokratieabbaus ist richtig. Was hierzulande bisher passiert, ist nur homöopathisch.
Sie beschreiben die Probleme. Aber das allein scheint es ja nicht besser zu machen. Die Zahl der Gesetze und Verordnungen ist auch unter der Ampelregierung deutlich gestiegen, obwohl sie das Gegenteil propagiert hat. Braucht es nicht bindende Vorgaben: Ein Bauministerium, das sichtbar fünf Regeln pro Woche abschafft beispielsweise?
Wahrscheinlich braucht es tatsächlich genau so etwas Plakatives. In Deutschland sehe ich einen echten Veränderungsnotstand. Trotzdem ernte ich selbst schon für Reformvorschläge oder Anregungen, wo Veränderung nötig wäre, regelrechte Shitstorms – eine ernsthafte Debatte darüber wird oft schon im Keim erstickt. Wenn ich etwa sage, dass die Verkehrspolitik auch die Landbevölkerung berücksichtigen muss, werde ich als alter Dinosaurier abgestempelt, der einseitig das Auto verteidige. Und wenn ich weitere Verschärfungen der Arbeitszeitdokumentation kritisiere, wird mir gleich Sozialdarwinismus unterstellt.
Muss nicht auch das Handwerk sich selbst verändern? Gerade beim Thema Wärmepumpen und digitale Heizungssteuerung scheinen manche Installationsbetriebe an die Grenzen ihres Know-hows zu kommen.
Wärmepumpen müssen technisch und auch betriebswirtschaftlich funktionieren. Dazu müssen wir als Handwerk unseren Teil beitragen, da stimme ich zu – auch wenn der Beratungs- und Bürokratieaufwand hoch ist. Ein positives Beispiel unter den neueren Energie-Technologien ist übrigens die Photovoltaik. Noch vor wenigen Jahren hieß es, dafür bräuchte man 80.000 zusätzliche Fachkräfte, um den Bedarf zu decken. Diese Einschätzung hat sich als falsch erwiesen: Die Montage der Anlagen ist heute kein Problem, und die Ausbauziele wurden sogar übertroffen. Der entscheidende Punkt: Photovoltaik rechnet sich und funktioniert. Auch Wärmepumpen würden für mehr Haushalte attraktiv, wenn wir einen verlässlich niedrigen Strompreis hätten. Würde sich eine Wärmepumpe beispielsweise nach fünf Jahren amortisieren, gäbe es mehr Aufträge und damit auch mehr Praxiserfahrung.
Im vergangenen Jahr sagten Sie im Zusammenhang mit dem Heizungsgesetz: Das Vorgehen von Wirtschaftsminister Habeck erinnere sie an die Fünfjahrespläne der DDR.
Mit meiner Aussage zum Fünfjahresplan wollte ich pointiert auf ein System hinweisen, das von einer Staatsdoktrin und einem gemeinsamen moralischen Gedanken geprägt war. Doch mit Moral und Patriotismus allein lässt sich die notwendige Transformation angesichts des demografischen und technologischen Wandels nicht bewältigen. Wir sollten uns auf das technisch Notwendige konzentrieren, auf Qualifikation und das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft. Es gilt, wieder mehr Freiheit zu wagen und stärker auf das Vertrauen in die Marktteilnehmer zu setzen. Nur aus einer Position wirtschaftlicher Stärke heraus können wir den Wandel erfolgreich gestalten.
Im Osten Deutschlands dagegen scheint es eine Sehnsucht nach alten Strukturen zu geben, wie die jüngsten Wahlergebnisse zeigen. Einfache Antworten, klare Führung. Wie kam es zu dem Rechtsruck?
Die Menschen in Ostdeutschland haben in den vergangenen Jahren wiederholt tiefgreifende Transformationen durchlebt und sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet. Doch nun sehen sie sich erneut mit der Erwartung konfrontiert, grundlegende Veränderungen und Transformationen zu durchlaufen – und das vor dem Hintergrund eines wirtschaftlichen Abschwungs. Dies könnte eine Erklärung für den größeren Unmut im Osten sein. Gerade in ländlichen Regionen fragen sich die Menschen, warum vor allem über Lastenräder und Parkplätze in den Städten diskutiert wird, während vor Ort nicht einmal mehr ein Bus fährt.
Das erklärt doch nicht den Hang zum Autoritären.
Nein, aber der demokratische Staat scheint nach dem Empfinden mancher momentan kein gutes Angebot zu bieten. Wenn der Gesetzgeber etwa verlangt, 50.000 oder 100.000 Euro für den Einbau einer bestimmten, vorgegebenen Heiztechnologie auszugeben - Geld, das viele nicht haben - kommt zu Recht die Ablehnung zu solch einer Vorgabe. Trotzdem ist es für mich unverständlich, dass man – gerade wenn man die DDR-Zeit erlebt hat – glauben kann, eine starke Persönlichkeit oder Führung könnte alle Probleme lösen. Gerade aus dieser Erfahrung heraus sollte doch eigentlich die Erkenntnis gewachsen sein, dass es Demokratie und der Streit der Meinungen sind, die uns nach vorne bringen.
Ist das Handwerk noch attraktiv für junge Menschen? Es gibt 2,9 Millionen Menschen ohne Berufsausbildung, gleichzeitig aber geht die Zahl der Auszubildenden im Handwerk auf lange Sicht zurück.
Das ist ein ernstes gesellschaftliches Problem, das weit über das Handwerk hinausgeht. Wir können nicht alle Versäumnisse des Bildungssystems ausgleichen. Jugendliche ohne Schulabschluss oder unzureichenden Grundkenntnissen sind oft schwer für eine Ausbildung zu gewinnen. Dabei bietet das Handwerk gerade auch diesen jungen Menschen große Chancen als Aufstiegsmotor. Wir brauchen mehr Unterstützung, etwa durch eine Berufsorientierung, die an allen allgemeinbildenden Schulen immer auch die Möglichkeiten der beruflichen Bildung aufzeigt. Das wurde durch die jahrzehntelange bildungspolitische Fokussierung auf akademische Bildung sträflich vernachlässigt. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Entwicklung in den USA, wo sich immer mehr junge Menschen auch wieder handwerklichen Berufen zuwenden - manche sprechen schon von der "Toolbelt-Generation". Das erkläre ich mir genau daher, dass die Frage nach einem sicheren Job immer weniger im Dienstleistungsbereich beantwortet werden kann. Handwerksberufe hingegen laufen weniger Gefahr, durch Künstliche Intelligenz ersetzt zu werden.