Zentralverband des
Deutschen Handwerks
Zentralverband des
Deutschen Handwerks
19.09.2024

Handwerkerinnen und Handwerker sind echte Standortpatrioten

Um wieder Zuversicht zu schöpfen, brauchen die Betriebe schlicht bessere Bedingungen und vor allem verlässliche politische Entscheidungen, so ZDH-Präsident Jörg Dittrich zu Michael Schelenz ("Handwerker BILD") anlässlich des Tages des Handwerks.
ZDH-Präsident Jörg Dittrich

Herr Dittrich, Sie sind Dachdecker. Wenn Sie heute als junger Mann vor der Wahl stünden, für welche Lehre würden Sie sich entscheiden?

Ich kann mich mit ganz vielen Handwerksberufen identifizieren. Sich nur auf einen festzulegen, fällt da nicht leicht. Aber ich denke, ich würde eine Ausbildung zum Hörakustiker machen – auch wegen der enormen technologischen Fortschritte in diesem Beruf. Vor 150 Jahren blieb schwerhörigen Menschen nur das Hörrohr. Heute gibt es für sie Minicomputer, die ganz für das individuelle Ohr gefertigt und an die Bedürfnisse der Menschen angepasst und programmiert werden. Das finde ich faszinierend. Und es ist auch ein gutes Beispiel für die große Anpassungsfähigkeit im Handwerk insgesamt: In anderen Handwerksberufen gab es ganz ähnliche Entwicklungen.

So spontan und entscheidungsfreudig wie Sie sind viele junge Menschen nicht. Wie ist denn der Stand der Dinge beim Nachwuchs im Handwerk?

Etwa 350.000 junge Menschen werden derzeit in unseren Betrieben ausgebildet – betrachtet man alle Ausbildungsjahrgänge zusammen. Vor zwanzig Jahren waren es noch rund 500.000 Auszubildende. Für diese Entwicklung sehe ich vor allem zwei Gründe. Zunächst die Demografie: In Deutschland sind seither weniger Kinder zur Welt gekommen. Und dazu kam das Bildungsideal der vergangenen Jahrzehnte: Danach galten das Abi und nahezu zwangsläufig ein anschließendes Studium als Königsweg ins Berufsleben hinein. Dabei sind handwerkliche Fachkräfte in der Zukunft unverzichtbar. Fakt ist: Es sind zu wenige, die eine handwerkliche Ausbildung machen.

Und bei den zugewanderten jungen Menschen? Gibt es da kein Potenzial, das für das deutsche Handwerk von Nutzen sein könnte?

Doch, nicht umsonst heißt es bei uns in der Handwerksfamilie: Es zählt nicht, wo du herkommst, sondern wo du hinwillst. Wir heißen jede und jeden willkommen, der ein Handwerk erlernen möchte. Von Haus aus ist das Handwerk ein Integrationsmotor. Rund die Hälfte aller Geflüchteten, die in Deutschland eine Lehre machen, die machen diese bei uns im Handwerk. Natürlich muss man Voraussetzungen erfüllen, etwa die deutsche Sprache können oder sich zumindest anstrengen, sie zu erlernen.

Mit der Wirtschaft geht es insgesamt bergab, allein VW will Tausende Stellen streichen. Wie sehr betrifft die Rezession das Handwerk?

Die schlechte Wirtschaftslage betrifft alle. In Deutschland ist uns die Wettbewerbsfähigkeit ein Stückweit verloren gegangen. Davon ist das Handwerk genauso betroffen wie andere Bereiche. Der Öffentlichkeit fällt es nur stärker auf, wenn etwa große Unternehmen Beschäftigte im fünfstelligen Bereich entlassen und die Aktienkurse fallen. Doch auch die kleinen und mittleren Handwerksbetriebe haben Sorgenfalten. Und die können vor den schlechten Standortbedingungen nicht ins Ausland ausweichen: Das sind Standortpatrioten, regional verwurzelt, die sich im täglichen Wettbewerb durchsetzen und zusehen müssen, dass sie weiter erfolgreich bleiben und sich behaupten können. Genau deshalb setze ich mich als ihr Präsident so vehement bei der Politik für bessere Bedingungen für die kleinen und mittleren Betriebe ein. Und zugleich geht es mir als Verbandspräsident darum, dass wir im Handwerk berechtigte Zuversicht verbreiten und diese auch leben: Denn das Handwerk wird gebraucht – jetzt und in der Zukunft. Und nur mit dem Handwerk können wir diese Zukunft gestalten.

Das Handwerk leidet vor allem unter hohen Energiepreisen, Steuern, Sozialabgaben. Da ist zu vermuten, dass Wirtschaftsminister Habeck und Finanzminister Lindner im Handwerk nicht gerade freundlich empfangen werden, oder?

Wissen Sie, es geht nur gemeinsam. Wir alle – Politik, Gesellschaft, Handwerk - müssen anpacken, um die Wirtschaft insgesamt wieder auf einen Wachstumspfad zu bringen. Die Politik sehe ich allerdings besonders in der Pflicht. Wir brauchen entschiedene, mittelstandsorientierte und wachstumspolitische Maßnahmen, die gleichzeitig wieder ein Gefühl von Verlässlichkeit vermitteln. Wirtschaft und Gesellschaft müssen Zuversicht schöpfen. Und dafür ist eine gute, verlässliche Politik unerlässlich. Es braucht Lösungen, die Entlastungen bringen und durch die sich wieder eine größere Zufriedenheit einstellt. Und das schnell, denn bis der Wahlkampf zur nächsten Bundestagswahl beginnt, sind es nur noch wenige Monate. Die Handwerksbetriebe selbst tun das ihre, um sich auf die Veränderungen einzustellen. Und ich bin selbst immer wieder positiv überrascht und beeindruckt, wie vielfältig die Lösungen in den Betrieben sind: die einen konzentrieren sich auf verbesserte handwerkliche Produkte, die nächsten setzen auf Digitalisierung, wieder andere schaffen sich Netzwerke. Bei 1 Million Handwerksbetrieben in Deutschland gibt es nicht die eine Lösung, mit der der Fortbestand des Betriebes gelingt.

Zurück zum Alltag. Am 21. September ist der Tag des Handwerks. Welche Lehrstellen waren und sind denn 2024 besonders begeht?

Momentan sehen wir vor allem in den Klimaberufen wie etwa Elektrotechniker, Anlagenmechaniker Sanitär-Heizung-Klima, Zimmerer, Dachdecker kontinuierlich steigende Ausbildungszahlen. Auch die Bestatter haben keine Probleme, ihre Lehrstellen zu besetzen. Gleiches gilt für einige Berufe, die in die künstlerische Richtung gehen, wie etwa Gold- und Silberschmiede, Geigenbauer und Metallinstrumentenmacher. Es gibt auch mehr Abiturienten als früher, die eine handwerkliche Ausbildung einem Studium vorziehen. Sie sehen, welche Chancen ihnen mit einer Bildungskarriere im Handwerk offenstehen. Denn nach der Ausbildung können sie sich beispielsweise zur Meisterin oder zum Meister weiterqualifizieren – und sich dann auch Bachelor Professional nennen. Wir brauchen in den kommenden Jahren, in denen so viele Betriebsnachfolgen geregelt werden müssen, junge Leute, die die Fähigkeiten und das Wissen für eine Geschäftsführung mitbringen und diese auch anstreben.  

Sie haben jetzt Berufe genannt, an die viele nicht unbedingt zuerst bei Handwerk denken, da nennen viele dann doch eher den Maurer, Fliesenleger …

Ja, und schieben dann oft noch die Stereotype vom Handwerk hinterher: schmutzig, körperlich anstrengend, schlecht bezahlt. Doch das war gestern. Das Handwerk heute ist modern, innovativ, kreativ, digital. Und es bietet - dank gestiegener Löhne in den vergangenen Jahren - gute Verdienste, zumal bei Meistern - bei denen liegen die Verdienste bezogen auf die gesamte Lebensarbeitszeit gleichauf mit denen von Bachelorabsolventen. Natürlich ist es anstrengend auf dem Dach in einem heißen Sommer wie diesem. Aber für sehr viele körperlich beanspruchende Arbeiten gibt es längst technische Hilfen. Und das Handwerk heute bietet jungen Menschen so Vieles, was sie in anderen Berufen vermutlich nur schwer so verbinden können: Sinn, Selbstverwirklichung, Sicherheit, Arbeit mit modernen Technologien und zugleich soziale Erlebnisse, wenn sie mit ihren Tätigkeiten und Produkten Menschen glücklich machen. Das ist einzigartig.

Sie strahlen einen enormen Optimismus aus. Was war denn in den ganzen Jahren für Sie neben der sinnvollen Arbeit das Schönste am Beruf des Dachdeckers?

Wir Dittrichs sind ja eine Handwerker- und eine Künstlerfamilie. Meine Mutter spielte als Musikerin mehrere Instrumente, mein Bruder ist Berufsmusiker und der Generalintendant der Städtischen Theater Chemnitz, meine Schwägerin spielt Geige in der Dresdner Philharmonie. Ich habe als Kind Waldhorn gespielt und war im Chor. Aber mich hat es mehr in unseren Dachdeckerbetrieb gezogen, ich wollte zu meinem Vater in die Firma, gemeinsam mit ihm arbeiten, und bin daher Dachdecker geworden. Schon als Kind und Jugendlicher fand ich dieses Miteinander im Betrieb und auf der Baustelle toll. Alle dort waren wie eine Familie für mich: Die Leute reden miteinander, machen gemeinsam Frühstück oder Mittag, laden sich gegenseitig ein und stehen füreinander ein. Ja, das Schöne am Handwerk war und ist für mich auch immer dieses soziale Miteinander, das Menschliche: Diese Handwerksfamilie ist die eigentliche Faszination für mich.

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