Regierung muss zur Standortstärkung weitergehende Schritte machen
Gravierende Unterschiede von Kanzler und Wirtschaft in der wirtschaftlichen Lagebeurteilung erschweren es, sich auf nötige Maßnahmen zur Standortstärkung zu einigen, so ZDH-Präsident Jörg Dittrich zu Andreas Niesmann von "RND".
Herr Dittrich, Industrie und produzierendes Gewerbe funken schon länger SOS, inzwischen klagt auch das Handwerk immer lauter. Geht es der Wirtschaft wirklich so schlecht?
Ich fürchte, ja. Auch im Gesamthandwerk erwarten viele Betriebe sinkende Umsätze, weiter schmelzende Auftragspolster. Wichtige Investitionen stellen sie erst einmal zurück. Die bleiben auf breiter Front aus. Betriebe und Beschäftigte sorgen sich um ihre Zukunft. Die Stimmung im Handwerk ist wirklich alles andere als gut – sie ist mies.
Bundeskanzler Olaf Scholz sagt, die Klage ist des Kaufmanns Lied. Er meint, die Wirtschaft jammert immer.
Ich weise diesen Satz zurück. Ich bin Handwerksmeister und kein Kaufmann, das habe ich dem Bundeskanzler auch direkt gesagt, als er das bei der Handwerksmesse in München so formulierte. Glauben Sie mir: Es macht mir wahrlich keinen Spaß, als Mahner am Straßenrand zu stehen. Ich fühle mich in dieser Rolle nicht wohl. Aber ich muss sie derzeit einnehmen, weil die Fakten inzwischen auch im Handwerk die gefühlte Wahrnehmung bestätigen.
Das sieht der Kanzler offenbar anders.
Die Beurteilung der wirtschaftlichen Lage durch den Bundeskanzler und die Spitzenverbände der Wirtschaft unterscheidet sich gravierend. Und das ist natürlich ein Problem. Wenn es in der Analyse schon so weit auseinander liegt, dann kommt man natürlich auch zu ganz anderen Schlüssen, welche Maßnahmen als notwendig erachtet werden. Die Wirtschaft und der Regierungschef sollten einen gemeinsamen Blick darauf haben, wo Betriebe und Unternehmen der Schuh drückt und wo ihre Probleme im Betriebsalltag liegen. Das war in der Vergangenheit immer eine Stärke. Offenbar sind wesentlich mehr Gespräche nötig, um das gegenseitige Verständnis zu verbessern. Die hat uns der Kanzler immerhin zugesagt.
Versteht der Kanzler nur die Wirtschaft nicht, oder versteht er nichts von Wirtschaft?
Olaf Scholz ist ein intelligenter Mann, natürlich versteht er die Zusammenhänge. Doch es macht auf mich den Eindruck, als nehme er das, was Unternehmen und Betriebe als Sorgen und Ängste aktuell formulieren, nicht für bare Münze. Das drückt sich ja auch in seinem Appell aus, nicht ständig die Situation schlecht zu reden. Aber ich kann mich nur wiederholen: Es sind die harten Fakten, die diese großen Sorgen bei vielen Unternehmern verursachen. Das sollte der Kanzler ernst nehmen. Die Herausforderungen und Probleme für die Wirtschaft sind riesengroß. Energiewende, grüne Transformation, marode Infrastruktur, schleppende Digitalisierung, Fachkräftemangel - das alles sind wahnsinnig dicke Bretter. Da reicht es nicht zu sagen: Wartet, bis die EZB die Zinsen senkt, dann wird alles wieder gut. Ich sage Ihnen: wird es nicht. Es sei denn, man fängt mal an, diese dicken Bretter auch zu bearbeiten.
Der Kanzler sagt, seine Regierung habe das Land gut durch die Energiekrise gesteuert. Widersprechen Sie da?
Nein. Wir sind gut durch die Krise gekommen. Das stimmt, und dafür hat die Regierung mehr Wertschätzung verdient. Aber jetzt muss es weitergehen. Nehmen wir die Kraftwerksstrategie: Die ist schnell aufgeschrieben, aber dann passiert nichts. Wo sollen all die grundlastfähigen Gaskraftwerke stehen? Wer wird sie bezahlen? Wer wird sie bauen? Wann werden sie fertig? Derzeit wird noch nicht einmal eines geplant. Dass das die Wirtschaft verunsichert, sollte auch der Bundeskanzler verstehen. Er sollte sagen können, welche Schritte als nächstes anstehen.
Über Finanzminister Christian Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck klagt die Wirtschaft weniger. Haben die mehr Verständnis?
Ich werde kein Kanzler-Bashing veranstalten, er trägt die größte Verantwortung in diesem Land – auch in der Zusammenführung von Themen. Wahr ist aber, dass die Gespräche mit dem Finanzminister und dem Wirtschaftsminister zurzeit wesentlich tiefgehender sind, weil es eine gemeinsame Einschätzung hinsichtlich des Handlungsdrucks gibt. Mein Gefühl ist, dass beide ihrer Verantwortung gerecht werden wollen, und auch über ihren Schatten springen würden, wenn es notwendig ist.
Was ist denn aus Ihrer Sicht notwendig?
Ich würde ungern konkrete Punkte benennen, weil die dann gleich wieder zerredet werden. Klar ist aber, dass wir an der Investitionsschwäche arbeiten müssen. Ja, wir haben gerade so viele sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse wie nie. Ganz abgesehen davon, dass darunter viele Teilzeitarbeitsverhältnisse sind: Wollen wir wirklich darauf warten, dass die in großer Zahl verlagert werden, bevor wir reagieren? Wenn deutsche Unternehmen einen Großteil ihres Gewinnes im Ausland erwirtschaften, ist das doch ein Alarmsignal für den Standort Deutschland. Übrigens gibt es sogar Handwerksbetriebe, die ihre Produktion ins grenznahe Ausland verlagern, weil die dortigen Standortbedingungen einfach besser sind.
Die Bundesregierung feiert sich für große Ansiedlungen ausländischer Unternehmen wie Intel, TSMC, Northvolt oder Eli Lilly.
Es ist natürlich gut, dass es sie gibt. Aber wahr ist auch, dass die meisten dieser Ansiedlungen mit sehr viel Steuergeld angelockt wurden. Und: Solche Einzelbeispiele ändern wenig an der Statistik. Und die sagt, dass die Summe der Investitionen in die deutsche Wirtschaft seit 2014 zu gering ist. Wenn man das ändern will, muss man über die Rahmenbedingungen reden.
Der Bundeskanzler verspricht einen großen Schritt beim Bürokratieabbau…
Das Versprechen kenne ich, das Konzept allerdings nicht. Ich hätte wahrlich nichts dagegen; mehr noch, der Schritt ist überfällig! Nur zweifele ich daran, dass die Regierung so viel Bürokratie streicht, dass die Investitionen wieder anspringen. Ich glaube, es ist mehr nötig, um die Wirtschaft anzukurbeln.
Und zwar?
Wir brauchen mehr Leistungsanreize. Für die Unternehmen wie für die Beschäftigten. Mehrarbeit lohnt sich für viele nicht, so lange Steuern und Abgaben so hoch sind. Wir reden gerade viel darüber, welche Anreize wir setzen können, damit Rentnerinnen und Rentner länger arbeiten – was ja richtig ist. Ich frage mich aber auch, welche Anreize wir eigentlich für den normal arbeitenden Teil der Bevölkerung setzen.
Ist das ein Plädoyer für steuerfreie Überstunden?
Nein, denn alle bisher bekannten Konzepte würden Vollzeitbeschäftigte gegenüber Teilzeitkräften bevorzugen. Bei steuerfreien Überstunden besteht die Gefahr, dass weniger Vollzeit gearbeitet wird, weil einige Beschäftigte unterm Strich für sich mehr herausholen könnten, wenn sie Teilzeit arbeiten und dann die zusätzlichen, steuerbefreiten Überstunden und die Zuschläge, die es dafür teilweise gibt, erhielten. Ich sehe zudem die Gefahr, dass dadurch der Gehaltsabstand zwischen Frauen und Männern wieder steigen könnte. Ich fände es sinnvoller, sich die Einkommenssteuerkurve oder steuerfreie Hinzuverdienstmöglichkeiten vorzunehmen.
Der gesellschaftliche Trend geht aber doch eher dahin, weniger zu arbeiten.
Schon mathematisch wird es nicht funktionieren, wenn alle nur noch vier Tage pro Woche arbeiten, aber das ist gar nicht mein wichtigster Punkt. Meine Erfahrung ist, dass die meisten Menschen gerne zur Arbeit gehen und Lust haben, etwas zu leisten. Jeder, der das mal erlebt hat, kennt doch diese Euphorie, wenn man Schwung aufnimmt, den inneren Schweinehund überwindet und in einen Flow kommt. Ich nenne das "fröhlichen Fleiß". Das Handwerk wird beim "Sommer der Berufsausbildung" für diese Perspektive auf das Thema Arbeit werben. Ich glaube, mehr fröhlicher Fleiß würde auch der gesamten Gesellschaft gut tun.