Zentralverband des
Deutschen Handwerks
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Deutschen Handwerks
02.01.2025

"Wir haben einen Veränderungsnotstand"

ZDH-Präsident Jörg Dittrich spricht mit Birgit Marschall von der Rheinischen Post über die Wirtschaftskrise, den dringenden Veränderungsbedarf in Politik und Gesellschaft und über nötige Reformen bei Sozialbeiträgen, Bürokratie und zur Fachkräftesicherung.
Portrait Dittrich

Herr Dittrich, wie dramatisch ist die deutsche Wirtschaftslage? Stecken wir schon in einer Dauerkrise wie Japan?

Dittrich Die langanhaltende Schwäche ist schon außergewöhnlich. Seit 2018 wachsen wir deutlich langsamer als unsere Wettbewerber. Das ist besorgniserregend, weil wir dadurch weniger Mittel haben, so viel in die Zukunft zu investieren wie nötig ist. Wir müssen uns massiv verändern. Aber ich kann diese Veränderungsbereitschaft in der Politik und der Gesellschaft noch nicht genügend erkennen. Wir haben einen Veränderungsnotstand.

Werden die Wahlprogramme der Parteien dem Veränderungsnotstand gerecht?

Dittrich Die Wahlprogramme gehen nicht weit genug, sie bleiben eher an der Oberfläche - was aus der Parteilogik nachvollziehbar ist, weil Parteien Mehrheiten gewinnen müssen. Aber wir sind jetzt an einem Punkt, an dem sich die Parteien ehrlich machen und den Menschen mehr zumuten müssten.

Welche Zumutungen meinen Sie?

Dittrich Ich fange mal an mit etwas Kostenlosem: Das bürokratische Dickicht erstickt uns. Da brauchen wir endlich einen echten Befreiungsschlag. Dass das nicht passiert, ist zum Verzweifeln. Wir haben absurdeste Regeln: Im Gesundheitshandwerk werden die Leistungen erst digitalisiert, dann wieder ausgedruckt und in dicken Aktenordnern abgelegt. Das führt die Digitalisierung ad absurdum.

Was muss noch an Zumutungen kommen? CDU-Chef Merz etwa sagt, wir müssten alle wieder mehr arbeiten.

Dittrich Leistung muss sich wieder lohnen. Die Menschen sollen selbst die Freiheit haben, zu entscheiden, wie viel sie arbeiten wollen. Das erfordert aber, dass Leistungsträger klar besser da stehen müssen als die, die weniger leisten wollen. Da wir die Produktivität nicht so schnell steigern können, kann es gut sein, dass wir alle auch mehr arbeiten müssen.

Was ist denn der Hebel, damit sich Leistung wieder lohnt?

Dittrich Eindeutig die Sozialbeiträge. Die Finanzierung der Sozialsysteme vor allem an den Faktor Arbeit zu koppeln, das belastet personalintensive Bereiche wie das Handwerk überproportional und macht deren Leistung dann unbezahlbar. Es muss beispielsweise die Frage erlaubt sein, ob es generationengerecht ist, wenn sich die steigende Lebenserwartung automatisch und ausschließlich in mehr Freizeit für Rentnerinnen und Rentner ausdrückt. 

In der Kranken- und Pflegeversicherung steigen die Beiträge zu Jahresbeginn stark an. Wie wirkt sich das aus?

Dittrich Die Leute wissen, dass sie im neuen Jahr weniger Netto im Portemonnaie haben, weil die Beiträge so stark steigen. Das kann auch der Abbau der kalten Progression nicht abfangen. Das frustriert natürlich viele. Einfach weiterlaufen lassen kann man das aber nicht. Wir müssen uns fragen: Was können wir uns bei Gesundheit und Pflege noch leisten und was nicht?

Was genau müsste sich in der GKV ändern?

Dittrich Ich sehe in der GKV mehrere Stellschrauben, die man sich anschauen und überlegen muss, ob und was sich hier drehen lässt - Stichworte sind hier neben anderen: Eigenverantwortung, Leistungskatalog, Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen. An allen Stellschrauben muss gleichzeitig gedreht werden. Ziel muss es sein, die Gesamtbeitragssumme wieder unter 40 Prozent zu drücken.

Auch die Union will bei Rente und Gesundheit weitgehend alles unverändert lassen. Fehlt auch bei ihr die Veränderungsbereitschaft?

Dittrich Auch die Union richtet ihr Programm an den größten Wählergruppen aus. Das Thema Sozialsysteme muss von der neuen Regierung aber unbedingt in den Fokus genommen werden. Versicherungsfremde Leistungen sollten nicht einfach nur den Beitragszahlern aufgebürdet werden. Das zu finanzieren, ist schließlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Die Union möchte den Begriff Bürgergeld abschaffen.

Dittrich Das kann ich verstehen. Der Begriff Bürgergeld vermittelt bei Vielen das Gefühl, hier handele es sich um ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das ist jetzt nicht meine persönliche Wahrnehmung, sondern genau so höre ich es in der Praxis, etwa im Baustellenwagen oder der Werkstatt. Da wird genau so darüber gesprochen. Es darf aber bei den Leistungsträgern nicht das Gefühl entstehen, man könnte zwischen dem Bürgergeld und dem eigenen Einkommen wählen.

Die SPD will die Einkommensteuer für das reichste ein Prozent erhöhen, um die unteren 95 Prozent der Steuerzahler zu entlasten. Gute Idee?

Dittrich Da hat man außer Acht gelassen, dass dieses eine Prozent oft Familienunternehmer, Selbstständige und auch Handwerker sind. Also genau die Gruppe, die Arbeits- und Ausbildungsplätze schafft, und die helfen soll, dass Deutschland aus der tiefsten Krise der Nachkriegszeit wieder herauskommt. Die SPD hat nicht bedacht, dass 60 Prozent aller Handwerksbetriebe Personengesellschaften sind, die das Geld brauchen, um zu investieren und Jobs zu erhalten.

Die Union will die Unternehmensteuern auf 25 Prozent senken. Können Sie sich damit mehr anfreunden?

Dittrich Der Ansatz niedrigerer Unternehmenssteuern ist richtig. Aber er darf nicht nur für Körperschaften gelten, sondern eben auch für die Personengesellschaften.

Thema Fachkräftemangel. Welche Erfahrungen macht das Handwerk mit Beschäftigten aus Syrien?

Dittrich Wir sollten froh sein über jeden, der sich integriert hat. Die Arbeitgeber im Handwerk erwarten, dass sie ihre syrischen Beschäftigten dauerhaft und verlässlich als wichtige Fachkräfte weiterbeschäftigen können. Viele von ihnen haben sie mit großem Aufwand ausgebildet. Und: Wir suchen weiter händeringend Fachkräfte im Handwerk.

Zeigt das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz der Ampel positive Wirkungen?

Dittrich Leider längst noch nicht in dem Umfang, wie es nötig wäre. Das Gesetz ist zwar genau richtig, aber es kann in der Praxis noch nicht voll wirksam werden. Engpässe gibt es bei der Visa-Erteilung und in den Ausländerbehörden. Und viele Fachkräfte machen um Deutschland einen Bogen, weil ihnen die Steuern und Sozialbeiträge zu hoch sind. Dadurch verdienen sie nicht so viel netto wie in anderen Ländern.

Müssen wir mehr Schulden aufnehmen, um unsere Probleme zu lösen, also die Schuldenbremse lösen?

Dittrich Für mich ist die Schuldenbremse zentral, aber auch kein Dogma. Und es stört mich, dass immer zuerst nur darüber geredet wird, die Schuldenbremse zu lösen und dann erst über alles andere. Es muss aber andersrum sein: Erst müssen wir über Reformen im Sozialsystem und über die Umstrukturierung des Haushalts reden und erst dann sollten wir am Ende über die Schuldenbremse reden. Ohnehin: Ist es nicht erstaunlich, dass eine Koalition zu Zeiten mit den höchsten Steuereinnahmen an der Frage auseinanderbricht, noch mehr Schulden machen zu wollen?

Wie sieht Ihr Ausblick auf das Jahr 2025 aus?

Dittrich Solange die neue Regierung nicht arbeitsfähig ist, und das kann bis zur Jahresmitte dauern, sind keine neuen Impulse zu erwarten. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir in unserer Demokratie die Aufgaben lösen können. Auch wenn es schwerfällt: Wir müssen uns wohl in Geduld üben, bis wir wissen, in welche Richtung wir künftig marschieren.

Was wünschen Sie sich für 2025?

Dittrich Dass wir wieder wettbewerbsfähig werden. Nur dann können wir unseren Sozialstaat erhalten. Diesen Zusammenhang müssen wir als Gesellschaft endlich akzeptieren. Auch geopolitisch wird Deutschland in der Welt nur als wirtschaftlich starkes Land noch mitreden können. Weihnachten ist häufig die Zeit der guten Vorsätze. Oft geht das einher mit dem Plan abzunehmen. Wir denken dann an Diäten, Abnehm-Spritzen. Wir könnten uns aber auch einfach gesünder ernähren. Das ist zwar besonders schwierig und langwieriger. Aber es ist die beste und nachhaltigste Methode. Diesen Weg müssen wir gleichsam auch in der Wirtschaftspolitik gehen.

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