Der Traum vom Handwerk
Dieser Beitrag ist zuerst in Turi.Edition erschienen.
Bis zu meinem Urgroßvater waren meine Vorfahren alle Dachdeckermeister, also auch mein Vater. Er hat mich schon als kleines Kind mit auf Baustellen genommen. Der Haken an der Sache war, dass viele Baustellen in Industriebetrieben eine Zugangskontrolle mit Schranke hatten. Kleine Kinder durften da nicht rein. Deswegen versteckte mich mein Vater im Fußraum des Kleintransporters. Er zeigte dem Sicherheitsmann routiniert irgendeinen Arbeitsausweis, und ich war mit großem Herzklopfen drin in einer Welt, die zu entdecken für mich ein riesiges Abenteuer war.
Die Gespräche der Erwachsenen auf der Baustelle, der Geruch von Bitumen, der Geruch des Wetters, das Gefühl von Wärme und Kälte, der Regen auf der Haut, der Zusammenhalt der Handwerker, wenn sie gemeinsam anpackten oder auch gemeinsam beim Frühstück saßen – all das hat mich fasziniert. Bei diesen Baustellenbesuchen begann mein Traum, selbst Handwerker zu werden wie mein Vater, selbst zum Team zu gehören. Ich wollte ein Teil der Welt werden, die sich an diesen Tagen vor mir auftat.
Für mich hat sich dieser Traum erfüllt. Heute bin ich Dachdeckermeister und Handwerkspräsident. Und ich will, dass viele Kinder ihn träumen können – den Traum vom Handwerk. Aber das ist schwierig in einer Welt, in der junge Menschen zu selten mit dem Handwerk in Berührung kommen. Handwerkliche Bildungsinhalte und deren praktische Anwendung finden sich in kaum einem Lehrplan. Und das hat Folgen.
Denn die Schülerinnen und Schüler passen sich an, an eine Welt, in der das Verstehen der Photosynthese viel zählt, aber das Verarbeiten des dadurch entstandenen Holzes nicht Teil des Unterrichts ist. Dadurch geht so viel verloren. Der Sinn fürs Haptische, die Freude daran, etwas zu erschaffen. Das Begreifen auch etwas mit den Händen zu tun hat. Dazu kommen die Stereotype eines Bildungssystems, das sich allein an Hochschulen und Universitäten orientiert.
Ich habe die Vorurteile gegenüber dem Handwerk als Jugendlicher selbst erfahren müssen. Trotz guter Noten in der Schule habe ich mich gegen Abitur und Studium entschieden. Ich wollte Dachdecker werden. Meine Lehrer haben mit Unverständnis und Ablehnung reagiert. Mein Vater nicht. Er fragte: „Ist es denn Bedingung, Idiot zu sein, um Dachdecker zu werden?“
Ich will, dass Kinder das nicht mehr erleben müssen. Ich will, dass ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen, und dass es egal ist, ob sie sich nach der Schule für Sartre oder SHK entscheiden. Aber dafür braucht es einen Kulturwandel in den Kultusministerien.
Und es braucht einen Staat, dem die berufliche Bildung im wahrsten Sinne des Wortes etwas wert ist. Drei Milliarden Euro, um genau zu sein. Denn so hoch ist der Investitionsbedarf bei den Bildungsstätten des Handwerks.
Die meisten davon wurden zwischen 1970 und 1990 gebaut. Und mittlerweile nagt an ihnen der Zahn der Zeit. Erschwerend kommt dazu, dass sich die Anforderungen an Modernisierungen und Neubauten massiv erhöht haben. Hat ein Neubauvorhaben vor wenigen Jahren noch 60 Millionen Euro gekostet, so müssen sie heute locker das Doppelte auf den Tisch legen.
Den sogenannten Framo-Transporter, in dessen Fußraum sich der kleine Jörg Dittrich versteckt hat, gibt es natürlich nicht mehr als Neuwagen zu kaufen. Er war eigentlich auch damals schon ein Oldtimer. Er existiert aber immer noch in der Firma Dittrich. Außerdem lebt der Traum des Handwerks. In mir und 5,6 Millionen Handwerkerinnen und Handwerkern. Wir sind viele. Und wir wollen noch mehr werden. Man wird ja wohl noch träumen dürfen.
Jörg Dittrich, Handwerkspräsident