Mindestlöhne auf der Ebene der Mitgliedstaaten regeln
Hintergrund
Die EU-Kommission hat am 28. Oktober 2020 auf der Basis von Art. 153 Absatz 1 AEUV einen Vorschlag für eine Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union vorgelegt. Dieser soll laut Kommission das Lohngefälle innerhalb der EU verringern, das die Kohäsion und den fairen Wettbewerb im Binnenmarkt gefährde. Während des vorangegangenen Konsultationsprozesses befürworteten die Arbeitgeberverbände die Aufnahme von Verhandlungen über eine Ratsempfehlung, der Europäische Gewerkschaftsbund beharrte indes auf der Rechtsform einer Richtlinie. Gemäß Artikel 153 Absatz 5 AEUV besitzt die Kommission jedoch keine Kompetenz bei der Lohnsetzung.
Wesentliche handwerksrelevante Punkte
Der Richtlinienvorschlag sieht vor, dass die Mitgliedstaaten einen Rahmen für die Festlegung von angemessenen Mindestlöhnen schaffen sollen. Dabei sollen sie die Wahl haben, dieses Ziel durch gesetzliche Mindestlöhne oder durch den Zugang zu Mindestlohnregelungen in Tarifverträgen zu fördern.
- Laut Artikel 5 des Richtlinienvorschlags sollen Mitgliedstaaten, die gesetzliche Mindestlöhne einführen, sicherstellen, dass diese sich an folgenden Kriterien orientieren: Kaufkraft, allgemeines Lohnniveau und dessen Wachstum, Wachstumsrate der Bruttolöhne, Produktivitätsentwicklung. Eine Orientierung an der Tariflohnentwicklung wie in Deutschland ist nicht vorgesehen.
- Artikel 6 des Vorschlags ermächtigt die Mitgliedstaaten, verschiedene Abstufungen vom gesetzlichen Mindestlohn zuzulassen. Die Richtlinie ruft jedoch dazu auf, diese Abweichungen auf ein Mindestmaß zu beschränken. In jedem Fall sollen sie nicht-diskriminierend, angemessen und zeitlich begrenzt sein.
- Nach Artikel 7 sollen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass die Sozialpartner zeitnah und effizient in die Vereinbarungen zum gesetzlichen Mindestlohn eingebunden sind.
- Artikel 9 sieht eine Koppelung der öffentlichen Auftragsvergabe an die Einhaltung nicht nur gesetzlicher Mindestlöhne, sondern auch regionaler Tariflöhne vor.
Bewertung
Zentrales Anliegen des Handwerks ist es, die bewährten und funktionierenden Strukturen der Sozial- und Tarifpartnerschaft in Deutschland im Interesse der Betriebe zu stärken. Insoweit ist es sachgerecht, dass der Richtlinienentwurf weder darauf abzielt, das Mindestlohnniveau in der EU zu harmoniseren noch einen einheitlichen Mechanismus zur Festsetzung von Mindestlöhnen zu etablieren. Die Kommission hat sich entgegen der Mehrheit der Mitgliedstaaten dafür entschieden hat, ihren Vorschlag in Form einer Richtlinie vorzulegen. Eine Ratsempfehlung hätte aber ausgereicht, um die beabsichtigte Stärkung der sozialen Konvergenz in der EU zu erreichen. Darüber hinaus hätte eine Ratsempfehlung die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und der nationalen Sozialpartner für die Festlegung von Mindestlöhnen deutlich zum Ausdruck gebracht. So heißt es in Artikel 153 Absatz 5 ausdrücklich, dass Artikel 153 sich nicht auf das Arbeitsentgelt bezieht. Damit bestimmt die Regelung in Artikel 153 Absatz 5 AEUV, dass die Kommission generell nicht befugt ist, auf EU-Ebene Regelungen zur Lohnfindung festzulegen.
Die vorgesehene Einbindung von nationalen Sozialpartnern in die Festlegung der Mindestlöhne ist sachgerecht und entspricht dem deutschen Modell der Mindestlohnkommission, ebenso die im Vorschlag enthaltende Möglichkeit zur Abstufung der Mindestlöhne. Angesichts der hohen Bedeutung von Tarifverträgen für die Lohnfindung und das Lohnniveau in Deutschland ist zwingend erforderlich, dass auch – wie im Mindestlohngesetz geregelt – eine Orientierung an der Tariflohnentwicklung vorgesehen wird. Es ist im Übrigen zu befürchten, dass die vorgesehene Koppelung der öffentlichen Auftragsvergabe auch an die Einhaltung regionaler Tariflöhne zu Unübersichtlichkeit und damit zu Erschwernissen gerade für kleinere Betriebe bei der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung führen wird.
Im laufenden Gesetzgebungsverfahren gilt es sicherzustellen, dass die Kompetenz der Mitgliedstaaten für die Lohnfindung gewahrt wird.