Wandergesellen auf der Walz
Wandergesellen auf der Walz – Vergangenheitsrelikt oder Hochschule des Handwerks?
Die Tradition der Gesellenwanderschaft "Walz" übt auf viele Menschen eine starke Faszinationskraft aus. Auf Grundlage von Interviewdaten und Feldforschungen bietet die vorliegende Arbeit soziologische und ethnografische Einblicke in die Lebenswelt heutiger Wandergesellinnen und Wandergesellen. Der Lebens- und Lernmodus reisender Bäcker, Bootsbauer, Zimmerer und zahlreicher anderer heute wandernder Handwerker wird kultursoziologisch und wissenssoziologisch durchleuchtet. Vor dem Hintergrund der Analyse einiger bildungspolitischer Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit wird aufgezeigt, dass es auch in der modernen Wissensgesellschaft lohnenswert ist, sich mit dem Bildungsideal der Walz auseinanderzusetzen.
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Auszug aus der Dissertation
Einleitung: Die Walz – Kuriosum ohne Kulturbedeutung?
Wo immer Wandergesellen auftauchen, stehen sie im Mittelpunkt, sind Hingucker, Fotomotiv, Medienereignis. Für die meisten Menschen in Deutschland ist der Anblick von Wandergesellen in Kluft positiv konnotiert, oft wird ihnen ein gewisser Vertrauensvorschuss entgegengebracht, wovon die Gesellinnen und Gesellen bei der Suche nach dem nächsten Schlafplatz oder der nächsten Mitfahrgelegenheit sehr profitieren. Die Kehrseite einer Existenz als „wandelnde Attraktion“ ist, dass man als Wandergeselle ständig ungefragt fotografiert wird und kaum eine Minute Privatsphäre genießen kann. Auch Missverständnisse und Verwechslungen kommen vor. „Zauberer“, „Schornsteinfeger“ oder „Cowboy“ gehören zu den netteren Dingen, die man ihnen von Zeit zu Zeit nachruft.
Die Chance, in Deutschland einer Wandergesellin oder einem Wandergesellen zu begegnen, ist hierbei sehr klein. Nur ungefähr 450 Personen befinden sich momentan im deutschsprachigen Raum auf der Walz, weniger als 0,5 % der jungen Handwerker, die jährlich ihren Gesellenbrief in Deutschland erhalten, begeben sich auf Wanderschaft.
Angesichts ihrer verschwindend geringen quantitativen Bedeutung überrascht die nachhaltige mediale Präsenz der Gesellinnen und Gesellen und der hohe Bekanntheitsgrad der Tradition der Walz im deutschsprachigen Raum. Auch die meist wohlwollend-romantisierende Wahrnehmung und Thematisierung der Walz ist genaugenommen verwunderlich. Denn ohne Smartphone und oft mit wenig Geld, dafür stets mit papierener Landkarte und endlos viel Zeit ausgestattet, scheinen die von A nach B trampenden Gesellen hoffnungslos aus der Zeit gefallen. Wenn man bedenkt, wie radikal anders, ja konträr zu gesellschaftlichen Trends und Buzzwords wie z. B. „Digitalisierung“ sie sich verhalten, wirft das die Frage auf: Was verrät unsere von Faszination geprägte Wahrnehmung über uns selbst? Sind es vielleicht genau die Unterschiede zum modernen Alltagsleben, die den Reiz der Walz für uns ausmachen? Fungieren Wandergesellen für den von Zeitdruck, finanziellen Sorgen und Kontrollverlustängsten geplagten Normalbürger als Momentum romantischer Nostalgie, als kurz aufflackernde Phantasie von absoluter Freiheit und Ungebundenheit?
Fest steht: Die Walz ist ein vielschichtiges Phänomen. Wer sich, wie es der Verfasser dieser Arbeit getan hat, über den ersten Überraschungsmoment hinaus, „dass es so etwas heutzutage noch gibt“, ausführlich mit der Tradition der Gesellenwanderung beschäftigt, vermeint sich rasch selbst auf einer Reise durch mehr als 700 Jahre deutsche Geschichte zu befinden. Zum Ende des 19. Jh. sah es zeitweise so aus, als wäre es um die reisenden Handwerker geschehen. Der Handwerksforscher und Minister in der Weimarer Republik Rudolf Wissell bemerkte in seinem erstmals 1929 erschienenen Werk „Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit“ zur Walz:
„Die Wanderjahre waren einst die Hochschule des Handwerks, eine Art Hochschulstudium in der freien Schule des Lebens, von einer entsprechenden Organisation in bestimmten fachlichen Bahnen gehalten […]. Mit der Wanderschaft dürfte es ein für alle Mal vorbei sein.“
Wissell irrte sich: Die Zeit der Gesellenwanderung ist nicht vorüber. Seine Worte werfen aber die Frage auf, ob die Walz heute noch das ist, was sie wohl in der Wanderzeit des Schlossergesellen Wissell noch teilweise war: „Hochschule des Handwerks“. Welches ist der berufsbildende Wert der Walz heute? Ist sie immer noch als eine – zwar nur von Einzelnen betriebene – zentrale Institution und Kulturtechnik des Handwerks anzusehen? Kommt ihr darüber hinaus der persönlichkeitsbildende Wert einer „Schule des Lebens“ zu? Solche und weitere Fragen werden in der vorliegenden Arbeit beantwortet.
„Wie das Unterwegssein ist“
Dabei wird selbstverständlich auf die verfügbare Literatur zum Thema aufgebaut. Allein – kulturwissenschaftliche Streifzüge in der Lebenswelt der Wandergesellen sind rar. Dies mag daran liegen, dass sie – wie es auch der Autor dieser Arbeit erfahren musste – empirisch schwierig umzusetzen sind. Denn bei der Wandergesellenkultur handelt es sich um eine geheimnisbewahrende Kultur, die stark zwischen einem Innen und einem Außen unterscheidet – wobei man als Sozialforscher Gegenstand von Exklusion ist, sich also ganz klar außerhalb der Lebenswelt, in die man Einblick zu nehmen wünscht, befindet. Auch die Tatsache, dass die Gesellinnen und Gesellen es gewohnt sind, ständig von Laien ausgefragt und von Reportern interviewt und abgelichtet zu werden, schmälert eher ihre Bereitschaft, Auskünfte über ihre Erfahrungen und Erlebnisse zu geben. Oft wiederholen sich die Fragen der „Kuhköppe“, also der nichtwandernden Laien, ohnehin, sind ermüdend absehbar. Eine Sammlung an stereotypen Antworten hält jeder Wandergeselle parat.
All diese Umstände mögen erklären, warum tiefgründigere Literatur zur zeitgenössischen Wandergesellenkultur selten ist. Selbst in den beiden bedeutendsten neueren Schriften zur heutigen Walz, der aus dem Jahr 1989 datierenden Monografie von Anne Bohnenkamp und Frank Möbus „Mit Gunst und Verlaub!“ und der Dissertation von Grit Lemke (1999) „Wir waren hier, wir waren dort.“ sind gewisse „blinde Flecken“ zu verzeichnen. Diese zu erhellen ist eines der Ziele dieser Arbeit. So wird die seit den 1990er-Jahren erstarkende und heute bedeutende Bewegung der freireisenden Wandergesellen in beiden Schriften nur am Rande thematisiert. Zudem konzentriert sich Lemke fast ausschließlich auf das Bauhandwerk, bei Bohnenkamp und Möbus kommen zwar auch Vertreter anderer Gewerkegruppen zu Wort, insgesamt dominieren aber auch hier die Bauberufe. Schließlich muss für beide Schriften festgestellt werden, dass sie auf gewisse, für die Lebenswelt heutiger Wandergesellen zentrale Alltagspraktiken wie das Trampen oder die Schlafplatzsuche kaum eingehen. Auch die Frage, inwieweit der von Wissell beschworene berufsbildende und persönlichkeitsbildende Zweck der Walz heute noch eine Rolle spielt, wird nur am Rande thematisiert.
Dass man die Behandlung solcher Themen bei Bohnenkamp und Möbus wie auch bei Lemke vermisst, liegt wohl auch daran, dass beide Publikationen keinerlei alltagssoziologisches und nur geringes ethnografisches Interesse bekunden, sondern eher eine kulturgeschichtliche Perspektive einnehmen.6 Wichtigstes Ziel der vorliegenden Arbeit ist es dagegen, soziologische und ethnografische Dimensionen der heutigen Walz oder – wie Wandergesellen ihre Reise nennen – der „Tippelei“ – zu Papier zu bringen. Hierbei stehen die freireisenden Wandergesellinnen und Wandergesellen mit der bei ihnen vertretenen Vielzahl von unterschiedlichen Gewerken im Fokus der Arbeit. Ohne den unten nachzulesenden Ergebnissen zu weit vorgreifen zu wollen, sei schon an dieser Stelle festgestellt: Zu Lernen, Erfahrungen in ihrem Gewerk zu sammeln, ist – neben einer gehörigen Portion von Reise- und Abenteuerlust – nach wie vor ein wichtiges Motiv von jungen Handwerksgesellen, sich auf die Walz zu begeben.
Eine Auseinandersetzung mit dem spezifischen „Lernmodus“ der Walz findet man in der neueren Literatur dann auch bei Benjamin W. Schulze. Schulze versteht das Gesellenwandern als „zentrales Element eines jahrhundertewährenden Lern- und Innovationsmodus im Handwerk“ . Allerdings erscheint ihm die heutige Ausformung der zünftigen Walz als eine „[…] nicht mehr massentaugliche Kulturpraktik mit zu vernachlässigendem Einfluss auf das Handwerk im Allgemeinen.“ Er spricht sich für eine Neubelebung des Gesellenwanderns in Form einer „Walz 2.0“ aus und schlägt konkret drei Varianten vor: „[…] ein Austauschprogramm für (angehende) Könner, ein Workshopprogramm in den wettbewerbsneutralen Werkstätten der Kompetenzzentren des Handwerks sowie ein digitaler Interaktionsraum der Zukunft.“ Allerdings vermisst man bei Schulze die Befragung von Wandergesellinnen und Wandergesellen, die darüber Auskunft geben könnten, wie die Walz heute konkret abläuft, wie – um es mit den Worten eines im Rahmen dieser Arbeit befragten Gesellen zu sagen – „das Unterwegssein ist“. Vielleicht könnte man ja einiges lernen von diesen Personen, die diese zugegebenermaßen in der heutigen Form „nicht massentaugliche Kulturpraktik“ praktizieren? Z. B., welche konkreten Lernerfahrungen von jungen Handwerkerinnen und Handwerkern heute auf der Walz gemacht werden, was den „Lernmodus“ der Walz heute eigentlich genau ausmacht oder welche konkreten Erfahrungen wandernde Lebensmittelhandwerker, Kunsthandwerker oder Vertreter anderer Nicht-Baugewerke bei der Arbeitssuche heute machen.
Das Desinteresse an handwerklichem Erfahrungswissen
Insgesamt bleibt festzustellen, dass sich der wissenschaftliche Diskurs für die konkreten Erfahrungen heutiger Wandergesellen wenig interessiert. Wie die jungen Gesellinnen und Gesellen ihren Reisealltag bewältigen, wie es sich anfühlt, in Kluft durchs 21. Jh. zu streifen, was sie handwerklich lernen und welchen Stellenwert sie selbst solchen Lernerfahrungen beimessen, bleibt unbeobachtet. Diese Beobachtungslücke gilt umso mehr für jene Wandergesellen, die nicht dem Bauhauptgewerbe zuzurechnen und freireisend unterwegs sind.
Dass Erfahrungswissen von Handwerkern grundsätzlich nicht zu den bevorzugten Gegenständen wissenschaftlicher Beobachtung gehört, ist im Übrigen nicht neu. Erst seit den 1980er-Jahren ist ein zunehmendes wissenschaftliches Interesse an praktischem menschlichen Erfahrungswissen zu verzeichnen. In diesem Zusammenhang begannen einzelne Wissenschaftler sich auch für handwerkliches Erfahrungswissen zu interessieren. In der bildungspolitischen Diskussion in Deutschland ist eine zunehmende Wertschätzung der erfahrungsbasierten Könnerschaft von Handwerkern erst in neuester Zeit, und auch nur in Ansätzen, festzustellen.
In den letzten Jahren wurden einzelne, empirisch detailreiche und zugleich philosophisch tiefgründige Studien veröffentlicht, die in den Schatz des Erfahrungswissens von vermeintlich groben und einfachen Handwerksberufen eintauchen. Hier zu nennen sind insbesondere die Monografie „Ich schraube, also bin ich.“ des Philosophen und Motorradmechanikers Matthew B. Crawford, die sich so scheinbar profanen Dingen wie der Auto- und Motorradreparatur widmet sowie das kultursoziologisch ambitionierte Werk „Handwerk“ von Richard Sennett. Beide Autoren geben nicht nur wertvolle Einblicke in alltäglich-gekonnte, deswegen aber keinesfalls ordinäre Handgriffe und Fertigkeiten, sondern nehmen auch eine wissenssoziologische Verortung der Bedeutsamkeit handwerklichen Wissens für unsere, scheinbar von der Verehrung theoretischen Wissens durchdrungene, Gesellschaft vor. Solche Schriften machen Mut. Sie fördern die längst überfällige Erkenntnis, dass sich Bildung nicht in der Anhäufung von theoretischem Wissen erschöpft und dass eine Steigerung der Studienanfängerquote nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Erkenntnisse, die sich in Deutschland – wenn auch überaus langsam und nur vor dem Hintergrund nicht mehr zu übersehender Engpässe im Bereich handwerklich-technischer Fachkräfte – allgemein durchzusetzen scheinen.
Die vorliegende Arbeit sieht sich „in der Tradition“ von Schriften wie den soeben genannten. Sie unternimmt eine Exkursion in die – recht eigentümliche – Lebenswelt von reisenden Handwerkern des 21. Jh. Die Erfahrungen, die auf dieser Reise gemacht werden, werden aufgezeigt und soziologisch sowie teilweise philosophisch eingeordnet. Der Autor dieser Arbeit betrachtet die heutigen Wandergesellinnen und Wandergesellen nicht als Kuriosa, sondern als ernstzunehmende Individuen, die sich die Tradition der Walz zu eigen machen, sie zum Teil individuell interpretieren, sie für ihre eigenen Zwecke nutzen, sich aber auch in ihr ein- und ihr unterordnen, und so an einer jahrhundertealten Kulturtechnik teilhaben. Gemäß der kulturwissenschaftlichen Traditionen der Verstehenden Soziologie und der Soziologie des Alltags werden Handwerksgesellen in dieser Arbeit also nicht als „Kultur-Trottel“ behandelt, die stumpf einem überlieferten Regelwerk folgen, sondern sie werden als kreative Individuen und kompetente Experten ihrer Lebenswelt ernst genommen. ...
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