BFH: Zur Schätzungsbefugnis bei Pauschbeträgen für Sachentnahmen
Hintergrund
Nach § 162 Abs. 1 Satz 1 AO hat die Finanzbehörde zu schätzen, soweit sie die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen kann. Gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 AO ist insbesondere dann zu schätzen, wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegt. Gemäß § 22 Abs. 2 Nr. 3, Nr. 1 Satz 2, § 3 Abs. 1b Nr. 1 UStG, §§ 140 ff. AO sind Aufzeichnungen über die Entnahme von Gegenständen durch den Unternehmer aus seinem Unternehmen für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen, getrennt nach Steuersätzen vorzunehmen. Bei Steuerpflichtigen, die ihren Aufzeichnungspflichten nicht nachkommen, sind die Sachentnahmen nach § 162 AO zu schätzen (Urteil des Bundesfinanzhofes (BFH) vom 23.04.2015 – V R 32/14, BFH/NV 2015, 1106, Rz 9). In diesem Fall sind die Sachentnahmen nach § 162 AO auch für Zwecke der Einkommen- und der Gewerbesteuer zu schätzen (BFH-Beschluss vom 19.03.2007 – X B 191/06, BFH/NV 2007, 1134, unter 1.b, m.w.N.).
Dem Urteil (BFH, Urteil vom 16. September 2024, Az. III R 28/22) liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger, ein Einzelkaufmann, betrieb mehrere Supermärkte und entnahm in den streitbefangenen Jahren 2015 – 2017 Waren für den Eigenbedarf, ohne diese Entnahmen einzeln aufzuzeichnen. Stattdessen nutzte er bei der Gewinnermittlung die für die jeweiligen Kalenderjahre vom Bundesministerium der Finanzen (BMF) veröffentlichten Pauschbeträge für unentgeltliche Wertabgaben (Sachentnahmen) für den Gewerbezweig Nahrungs- und Genussmittel (Einzelhandel). Die Bescheide ergingen zunächst erklärungsgemäß.
Nach einer Außenprüfung kam das Finanzamt (FA) zu der Auffassung, dass die BMF-Regelung nur für Nahrungs- und Genussmittel gelte, nicht jedoch für Non-Food-Artikel. In der Folge nahm das FA Hinzuschätzungen für die Entnahmen von Non-Food-Artikeln vor und erhöhte die Einkünfte aus Gewerbebetrieb gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG bzw. § 7 Satz 1 GewStG und die Umsatzsteuer entsprechend. Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen gerichteten Klage des Steuerpflichtigen statt und entschied, dass die Hinzuschätzungen des FA unzulässig seien, da sie über die Pauschbeträge der BMF-Regelung hinausgingen.
Die Revision des FA wurde abgewiesen. Die erkennenden Richter des Senats führten hierzu in den Urteilsgründen u. a. wie folgt aus: "Die Vorentscheidung verstößt gegen Bundesrecht, weil das FG zu Unrecht davon ausgegangen ist, dass das FA wegen der Sachentnahmen des Klägers aus seinen Supermärkten dem Grunde nach zur Schätzung der Besteuerungsgrundlagen gemäß § 162 AO berechtigt war, und weil es (folgerichtig) für Schätzungen geltende Rechtsgrundsätze angewandt hat. Im Streitfall lagen die Voraussetzungen für eine Schätzung nicht vor. Der Kläger hat nicht gegen Aufzeichnungspflichten verstoßen, sondern in zulässiger Weise von einer Erleichterung von den durch die Steuergesetze begründeten Aufzeichnungspflichten Gebrauch gemacht.
Die Vorentscheidung ist dennoch im Ergebnis richtig, weil das FG im Ergebnis zu Recht hinsichtlich der Hinzuschätzungen wegen der Entnahme von Non-Food-Artikeln der Klage stattgegeben hat. (…) Gemäß § 22 Abs. 2 Nr. 3, Nr. 1 Satz 2, § 3 Abs. 1b Nr. 1 UStG, §§ 140 ff. AO sind Aufzeichnungen über die Entnahme von Gegenständen durch den Unternehmer aus seinem Unternehmen für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen, getrennt nach Steuersätzen vorzunehmen. Bei Steuerpflichtigen, die ihren Aufzeichnungspflichten nicht nachkommen, sind die Sachentnahmen nach § 162 AO zu schätzen (Urteil des Bundesfinanzhofs —BFH— vom 23.04.2015 – V R 32/14, BFH/NV 2015, 1106, Rz 9). (…)
Eine (Hinzu-)Schätzung wegen Verstoßes gegen Aufzeichnungspflichten scheidet allerdings aus, soweit der Steuerpflichtige von derartigen Pflichten entbunden war, zum Beispiel gemäß § 22 Abs. 6 Nr. 1 UStG i.V.m. §§ 63 ff. der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung, oder weil ihm gemäß § 148 Satz 1 AO eine Erleichterung bewilligt worden war, die er in Anspruch genommen hat. Im Streitfall kommt aufgrund von Satz 2 der zweiten Vorbemerkung der BMF-Regelung eine erleichterte Art der Aufzeichnung von Entnahmen in Betracht. Danach wird dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit geboten, die Warenentnahmen monatlich pauschal zu verbuchen, sofern er sich an die vom BMF jährlich bekanntgegebenen, nach Erfahrungswerten festgelegten Jahreswerte hält. Die vom BMF festgelegten Jahreswerte sehen dabei entsprechend der Verpflichtung zur nach Steuersätzen getrennten Aufzeichnung pauschale Werte sowohl für Waren mit ermäßigtem Steuersatz als auch für solche mit vollem Steuersatz vor.
Das BMF hat damit für die Streitjahre eine Erleichterung der Aufzeichnungspflicht geschaffen, auf die sich der Kläger berufen kann. (…) Die BMF-Regelung ist unter Berücksichtigung der Aufgabenverteilung zwischen dem BMF und den Landesfinanzbehörden als allgemeine fachliche Weisung zu qualifizieren. (…) Trotz der gewählten Handlungsform der allgemeinen fachlichen Weisung entfaltet die BMF-Regelung eine Vertrauensschutzwirkung gegenüber den in ihr bezeichneten Gruppen von Steuerpflichtigen. (…) Bei der Auslegung der im Streitfall zu beurteilenden allgemeinen fachlichen Weisung in Gestalt der jeweiligen BMF-Regelung ist ein objektivierter Maßstab zugrunde zu legen. (…) Gemäß der in den Streitjahren geltenden Fassung der BMF-Regelung galt die Erleichterung unter Berücksichtigung der Regel, dass im Zweifel das den Betroffenen weniger belastende Auslegungsergebnis vorzuziehen ist, nicht nur für die Entnahme von Nahrungs- und Genussmitteln, sondern auch für die Entnahme von Non-Food-Produkten (jeweils ohne Tabakwaren), soweit es sich um Waren aus dem im jeweiligen in der BMF-Regelung genannten Gewerbezweig —hier dem Einzelhandel mit Nahrungs- und Genussmitteln— allgemein üblichen Warensortiment handelte."
Hinweis
Die Vorbemerkungen zu den Pauschbeträgen für unentgeltliche Wertabgaben (Sachentnahmen) enthalten beginnend ab der Fassung für das Kalenderjahr 2023 unter Ziffer 5 folgende Ausführungen zu den Non-Food-Artikeln: "Unentgeltliche Wertabgaben, die weder Nahrungsmittel noch Getränke (z. B. Tabakwaren, Bekleidungsstücke, Elektrogeräte, Sonderposten) sind, müssen einzeln aufgezeichnet werden."
Das BMF hat mit Schreiben vom 21. Januar 2025 die "Pauschbeträge für die unentgeltlichen Wertabgaben (Sachentnahmen) für das Kalenderjahr 2025" veröffentlicht.