Vorsteuerabzug bei Ist-Versteuerung des Leistenden
In der Rs. C-9/20 (Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136, EuGH-Urteil vom 10.2.2022) äußerte sich der EuGH zu der Frage, wann im Fall der Anwendung der Ist-Versteuerung (§ 20 UStG) der Vorsteuerabzug möglich ist.
In dem deutschen Vorlageverfahren ging es um eine Grundstücksgemeinschaft (Klägerin), die ein Grundstück vermietete, welches sie bereits steuerpflichtig angemietet hatte. Sowohl die Klägerin als auch ihr Vermieter wendeten die Ist-Versteuerung (§ 20 UStG) an. Aufgrund einer Stundungsvereinbarung bezahlte die Klägerin die Miete für die Jahre 2009 - 2012 teilweise erst in den Jahren 2013 - 2016. Erst im Zeitpunkt der Zahlung machte sie die Vorsteuer geltend. Das Finanzamt versagte den Vorsteuerabzug mit dem Hinweis, dieser hätte schon im Zeitpunkt des Leistungsbezugs geltend gemacht werden müssen. Im anschließenden Klageverfahren legte das Finanzgericht Hamburg die Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.
Der EuGH stellte fest, dass die derzeitige deutsche Regelung, wonach der Vorsteuerabzug stets mit Leistungsbezug und Vorliegen der Rechnung geltend gemacht werden kann, in Fällen der Anwendung der Ist-Versteuerung durch den Leistenden unionsrechtswidrig ist. Hier könne der Vorsteuerabzug durch den Leistungsempfänger vielmehr erst im Zeitpunkt der Zahlung der Rechnung geltend gemacht werden.
Dieses Urteil betrifft alle Unternehmen, die Leistungen von Unternehmen beziehen, welche die Ist-Versteuerung anwenden. Zwar darf die Vorsteuer in diesen Fällen nach der derzeitigen deutschen Gesetzeslage vorerst weiterhin in dem Zeitpunkt geltend gemacht werden, in dem die Leistung bezogen ist und die Rechnung vorliegt. Auf den Zeitpunkt der Zahlung der Rechnung kommt es hierbei (noch) nicht an. Jedoch wird der deutsche Gesetzgeber um eine Rechtsänderung nicht herumkommen. Dann wird der leistende Unternehmer seinen Leistungsempfänger in der Rechnung auch darüber informieren müssen, dass er die Ist-Versteuerung anwendet.
Im Handwerk können schätzungsweise 75 Prozent der Unternehmen die Ist-Versteuerung nach § 20 UStG anwenden. Es steht zu befürchten, dass von Seiten unternehmerischer Kunden mit steuerpflichtigen Ausgangsumsätzen, die nicht der Steuerschuld des Leistungsempfängers nach § 13b UStG unterliegen, durch die zu erwartende neue Rechtslage künftig Druck auf die Handwerksunternehmen ausgeübt wird, zur Soll-Besteuerung zu wechseln.